Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Gründungsmitglieder der Akademie,

als an einem schönen, sonnigen Tage vor zweieinhalb tausend Jahren ein griechischer Philosoph den folgenschweren Entschluss fasste, eine neue Immobilie, einen bezaubernden Olivenhain, der einem Halbgott mit dem Namen Akademos gehörte, käuflich zu erwerben, konnte er noch nicht ahnen, dass selbst in den, von Athen aus gesehen, entlegensten Gebieten, in den tiefsten, sumpfigen Provinzen eines mit Mythen umwobenen hohen Nordens, eben zweieinhalb tausend Jahre später, sich noch ein Echo auf jenen Namenspatron des Musen-Hains vernehmen lassen wird. Platon dürfte, sofern er vom Philosophenhimmel herabschaut, mit einigem Erstaunen zur Kenntnis nehmen, dass ein paar barbaroi und Künstler obendrein Titel und Namen des Akademos nun auch für sich in Anspruch nehmen und auf ihre Weise nach dem guten und freien Leben fragen. Seit dem 07.12.2015 gibt es sie, die Akademie der Künste Sachsen-Anhalt. Dies ist das Datum ihres Geburtstages.

Die Hebammenkunst, griechisch maieutikḗ, darf wohl als eine der ältesten und zugleich immer wieder unterschätztesten Kunstformen gelten. Eine Kunstform, die sich ganz konkret auf das martialische Wunder der gelingenden Geburt bezieht und seit den Tagen, da ein anderer Grieche, ein, wie man hört, sehr trinkfester Bildhauer mit dem Namen Sokrates seine Bereitschaft aufkündigte, den äußerst opaken, dichten, undurchdringlichen, scheinbar evidenten Notwendigkeiten und oftmals damit einhergehenden irrigen Gedanken blind Gefolge zu leisten, spätestens seit diesen Tagen also ist mit dem Wort Geburtshilfe das schöne Wagnis beschrieben, sich wechselseitig hervorzubringen, ins Dasein zu rufen. Das entscheidende Medium dieses wohl prinzipiell unabschließbaren Geburtsaktes ist das gemeinsame Gespräch. Hier haben wir zwei wichtige Motive, damals wie heute, die Wesentliches aussagen über den Willen eine Akademie zu gründen: das Gespräch und die daraus resultierende Fähigkeit sich in freier Assoziation zusammen zu schließen, in der Gründung sich selbst zu begründen durch die Vergegenwärtigung und Wahrnehmung des jeweils Anderen, dem Hören aufeinander und die daraus folgende Lust an der gemeinsamen Tat. Denn, wie Bazon Brock mit Blick auf den ursprünglichen Sinn von Akademien formuliert: die freie Assoziation ist die einzige Form in der man zusammen den Versuch unternehmen kann, selbst zu erfüllen, was man von sich und der Welt erwartet. Doch wie kommt es, dass ein disparater wilder Haufen unterschiedlichster Künstler sich freiwillig in diesen Prozess begibt, ja sich einer gemeinsamen Idee verschreibt? Ich denke, ich gehe nicht zu weit, einmal stellvertretend zu formulieren: es ist allen Gründungsmitgliedern schlichtweg ein echtes Bedürfnis!

Ich möchte nun im Folgenden einige Niederungen des gegenwärtigen gesellschaftlichen Geländes durchqueren, Aspekte der unumgehbaren Kontexte beschreiben, eine Skizze vornehmen, die als Entwurf einer Standortbestimmung, als Bodenprobe gewissermaßen ins Labor gehen kann.

Ich verwendete den Begriff der freien Assoziation, also einer Gemeinschaft, die an einer gemeinsamen künstlerischen Form arbeitet, in dem sie sich freiwillig selbst verpflichtet. Doch was ist Freiheit heute? Wie steht es mit der durch das Grundgesetz garantierten freien Entfaltung der Persönlichkeit und der darüber hinausgehenden geistigen, schöpferischen Freiheit in der Gegenwart? Angesichts der Dynamik des technisch-wissenschaftlichen Komplexes und der Herrschaft der Ökonomie, die alle Lebensbereiche durchdringen, sie formatieren und schlussendlich ihren Bedingungen unterwerfen, zeigt sich doch zunehmend glasklar, dass sie, die Freiheit, in der Eigenlogik der Systeme zu verschwinden droht. Doch damit nicht genug: der Philosoph Byung-Chul Han diagnostiziert einen bereits vollzogenen Übergang von der Disziplinar- zur Leistungsgesellschaft. Er entdeckt einen geradezu mephistophelischen Widerpart der Freiheit, eine anonymisierte Macht, die durch uns hindurchgeht, die uns bestimmt, deren Verführung uns gerade in unserem Freiheitsdrang schmeichelt. Die smarte Macht, so Han schmiegt sich der Psyche an, statt sie zu disziplinieren. Diese freundliche Macht ist gleichsam mächtiger als die repressive. Sie entzieht sich jeder Sichtbarkeit. Die heutige Krise der Freiheit bestehe darin, dass wir es mit einer Machttechnik zu tun haben, die die Freiheit nicht negiert oder unterdrückt, sondern sie ausbeutet. Peter Sloterdijk wiederum zeigt unter dem zum Motto geronnenen Rilke-Zitat „Du musst Dein Leben ändern“ wie eine Jahrtausende alte Erfolgsgeschichte des Übens den Menschen durch unvergleichliche Selbstoptimierungsprogramme zu dem machte, der er jetzt ist. Das heißt aber auch, dass er diejenigen Systeme hervorgebracht hat, mit denen er sich nach Byung-Chul Han jetzt umfassend ausbeutet. Die heute von fast jedem geforderte Selbstoptimierung dient nicht mehr der Frage nach dem guten und freien Leben, ist nicht Zweck in sich selbst, sondern dient dem Mehrwert der globalen Ökonomie, der Markteffizienz. Ein neues Reich der Fremdbestimmung zeichnet sich ab. Die Spuren ziehen sich durch fast jede zeitgenössische Biografie. Denn, wie der Theatermacher René Pollesch bissig formuliert: das Innere ist der Konsens. Indem Sehnsüchte, Wünsche, Vorstellungen, Impulse und Entscheidungen durch umfassende Markt-gesteuerte Bildprogramme und Erzählungen, durch ökonomische Bedingungen und Bedürfnisse kolonisiert werden, diese Kolonisierung als das menschliche Selbst ausgegeben wird, betritt heute jeder die Bühne des Konflikts des Dramas der Freiheit. Die gesellschaftliche Software heißt Freiheit, die Hardware Ökonomie. Das ist die Situation des alltäglichen Markt-Terrors.

Ist die Kunst nun ein Subsystem der Ökonomie, erfolgreich integrierter Lifestyle, Aufplüschung des Standortmarketings, kreativwirtschaftliche Produktmaschine, Bewußtseins-Spedition oder eine höchst individuelle Poetik, die gleichsam ins Universelle zielt und aus dem Universellen schöpft? Ich möchte mit Jorge Luis Borges antworten: „Wenn ich schreibe, versuche ich dem Traum und nicht den Umständen treu zu sein.“ Also: der Künstler riskiert sich selbst, er entscheidet sich für das Wagnis, eben nicht den Umständen treu zu sein, sondern dem Nichtwissen, dem Unbekannten. Er gewinnt dabei eine Treue zu dem unentwegten Versuch die Enge der Verhältnisse zu überwinden und einen neuen Raum, einen Gegenraum zu betreten, eine ebenso intime wie universelle Unendlichkeit. Dieser Gedanke spielte gerade in dem Kulturkreis, dem sich die Ländergrenzen des heutigen Sachsen-Anhalt eingraviert haben, eine entscheidende Rolle. Novalis erlebte und bezeugte den Menschen als Spiegelbild des gesamten Kosmos. Knüpfen wir doch daran an. Spinnen wir den Faden weiter. Treten wir in den Gesprächsraum dieses Kulturkreises ein. Erweitern und transformieren wir ihn aus unserer eigenen Arbeit heraus. Trinken wir hin und wieder ein Gläschen mit den Toten. Erzählen wir ihnen, dass dort wo sie uns das Bewußtsein für die Einheit des Verschiedenen überliefert haben, wir die Unversöhnbarkeit der Weltfragmente erleben. Und das trotzdem die nicht erzwingbare Unmittelbarkeit des Ganzen die imaginäre Fluchtlinie unserer Suche bleibt. In einem Gespräch, dass die Akademiemitglieder Thomas Blase, Wieland Krause, Andre Schinkel und Jörg Wunderlich geführt haben und das auf der Homepage des Netzwerks und Magazins Hallesche Störung nachzulesen ist, sagt Wieland Krause folgendes: „Das Zeitgenössische ist aber das Zukünftige, was sich an der Wurzel misst. Das ist wesentlich. Und wenn das nicht mehr stattfindet, ist das verheerend, eine Lücke also, die keine Zukunft findet.“

Für solcherart Standortbestimmung, Selbstvergewisserung, Selbstbefragung brauchen wir das Gespräch. Das Gespräch als Denk- und Erfahrungsraum, als Ereignis sich einander zu erkennen gebender Menschen. Die Präsentation des ersten Almanachs schreibt sich ein in das begonnene Gespräch als erste öffentliche Aktion der neu gegründeten Akademie der Künste Sachsen-Anhalt. Sinnlich, konkret, haptisch, geistig!

Verehrte Gäste, auch wenn ich das herrschende Paradigma einer totalen Ökonomisierung als Menetekel unserer Zeit diagnostiziert habe, möchte ich sie dennoch darauf hinweisen, dass die Ausgaben des Almanachs selbstverständlich käuflich erworben werden können. Und glauben sie mir, diesmal erhalten sie für ihr Geld wirklich etwas Unbezahlbares.