Im Rahmen der Soirée 11 der AdK wurden am 25. April 2024 in der halleschen Galerie Nord Bilder des Fotografen Matthias Zielfeld gezeigt. Dietrich Oltmanns hielt einen so berührenden wie kenntnisreichen Vortrag dazu, den wir an dieser Stelle veröffentlichen dürfen.

 

Das Offensichtliche betrachten

Bilder von Menschen in Matthias Zielfelds «das heft deutschland»
Nr. 7 und Nr. 10

Die Bilder, von denen hier die Rede sein soll, sind Fotografien von Straßenszenen, fast immer mit Menschen, aufgenommen im öffentlichen Raum Leipzigs in den Jahren 2012 (Heft 7) und 2010/11 (Heft 10). Man kann sie der Straßenfotografie zuordnen, einer Art den Fotoapparat zu benutzen, für die es seit gut 120 Jahren in der Fotogeschichte hervorragende Vertreter gibt. In Deutschland ab1890 etwa mit Heinrich Zille in Berlin, Julius Söhn in Düsseldorf u.a.. Heute scheint die Straßenfotografie sich auf dem Rückzug zu befinden, weil ihre Ausübung schnell mit Persönlichkeitsrechten der Abgebildeten in Konflikt gerät. Juristische Auseinandersetzungen können die Folge sein, zumindest bei Veröffentlichung so aufgenommener Fotos. Die Persönlichkeitsrechte des Einzelnen zu stärken, war angesichts der veränderten Medienlandschaft allerdings unvermeidbar und folgerichtig. Es trifft sicher auch zu, dass unbemerktes Fotografieren (eine oft angenommene Haltung in der Straßenfotografie, deren latente Gewalt sich in dem Wort Schnappschuss ausdrückt) in letzter Konsequenz bedeutet, sein Gegenüber für ein Bild zu vereinnahmen, manchmal sogar zu instrumentalisieren. «Einen anderen anzusehen, ohne selbst gesehen zu werden, ohne als Beobachter gesehen und ohne selbst angesehen zu werden, den anderen sozusagen verstohlen anzuschauen und gar zu photographieren, das heißt, ihm das Selbstbild zu rauben.» (1)

Eine solche Herangehensweise, lange Zeit geduldet und kaum in Frage gestellt, beruhte auf der Feststellung, dass der Mensch als gesellschaftliches Wesen unter Beobachtung sein Verhalten verändert. Im Umkehrschluss nahm man an, sein eigentliches, inneres Wesen, dem ein höheres Maß an Wahrhaftigkeit zugeschrieben wurde, einfangen zu können, wenn er sich unbeobachtet wähnt. Ein Mittel dazu war und ist der Schnappschuss mit seinem Überraschungsmoment, das Fotografen dazu verführen kann, bis an ethisch-moralische Grenzen zu gehen, manchmal auch diese zu überschreiten. Man glaubte auf diese Weise, durch eine Art «Ästhetik der Natürlichkeit», Fotos zu schaffen, deren angeblicher Wahrheitswert sie künstlerisch legitimiert und damit ihre Entstehungsweise rechtfertigt.

Ich teile diesen Glauben nicht. Er erscheint mir als Projektion und blendet zusätzlich aus, dass auch der Fotograf als Beobachter sich durch die Geste des Fotografierens verändert, was oft übersehen wird. Seine Manipulationen und Bewegungen stehen nicht außerhalb der Aufnahmesituation, wirken auf diese zurück. Man kann sie deshalb nicht isoliert betrachten. Als Medium ist Fotografie sicher mehr Fiktion, als es ihre üblichen Gebrauchsweisen vermuten lassen. An das Sichtbare gebunden, liegt Wahrheit außerhalb ihrer Reichweite und kann kein Maßstab für sie sein. Begnügen wir uns mit dem ihr eingeschriebenen «Wirklichkeitseffekt», ihrer technischen Genauigkeit und indexikalischen Beweiskraft. Letztere unterliegt zwar Einschränkungen, ist als grundlegende Eigenschaft der Fotografie aber immer anwesend, egal, was Fotografen im einzelnen beabsichtigen.

Matthias Zielfeld scheint im öffentlichen Leben nach wie vor Dinge zu entdecken, die ihm etwas bedeuten und die er mit Mitteln der Fotografie sichtbar machen kann. Wie er dabei angesichts der angedeuteten Schwierigkeiten vorgeht, darum soll es in diesem Versuch über zwei von ihm realisierte künstlerische Arbeiten gehen.

Es handelt sich um zwei thematische Bildhefte, die der Autor wie viele seiner Publikationen auf Nachfrage selbst produziert und vertreibt. Sie erregten durch Sujet und Abfolge ihrer schwarz-weißen Fotografien meine Aufmerksamkeit. Man sieht, dass der Autor das gewählte Medium beherrscht und mit dessen Eigenheiten vertraut ist. Die Bilder sind gut gedruckt und gekonnt angeordnet. Nur wenige Textangaben tauchen auf: Titel, Autor, Jahr und Ort der Aufnahmen. Bildunterschriften gibt es nicht. Die Machart der Hefte, welche in der Art eines großen Journals daherkommen, ist einfach: Weißes Werkdruckpapier, Rückstichheftung, etwa 70 Seiten, kein separater Umschlag. Man nimmt sie gern in die Hand, um darin zu blättern und zu schauen.

Es liegt nahe, den Bildkorpus jedes der Hefte als Fotoessay eines Autors zu betrachten, der uns durch seinen Blick auf die ihm begegnenden Menschen etwas mitteilen will. Dieser Blick ist ein forschender, gekoppelt an die eigene physische Bewegung im Stadtraum Leipzigs. Die Orte, die er aufsucht, sind solche des Alltags. In Heft 7 konzentriert er sich auf eine belebte Straßenkreuzung, bei Heft 10 liegen die angegebenen Aufnahmeorte über die gesamte Stadt verstreut. Wie Zielfelds Fotografien auf mich wirken und was mir bei ihrer Betrachtung aufgegangen ist, lässt sich nicht auf eine kurze Formel bringen. Ich muss dazu etwas weiter ausholen. Fest stand beim Betrachten allerdings ziemlich schnell: Es geht hier nicht um das Einzelbild, das wir mit Attributen wie gelungen, hervorragend, stark, ungewöhnlich u.ä. versehen, sondern um Fotografien, die beim längeren Hinschauen anfangen, sich aufeinander zu beziehen. Meistens sehen wir darauf Menschen, einzeln oder in Gruppen, als Passanten, Einkaufende, Innehaltende, Arbeitende, kurzum bei ihren alltäglichen Verrichtungen und beim Gehen durch die Stadt.

Über die Form des Essays und seine Hintergründe hat Marek Śnieciński in einem Text über den Fotografen Arno Fischer ganz grundsätzlich bemerkt: «Ein Essay wird dann notwendig, wenn wir Zweifel haben, wenn in uns Fragen entstehen, wenn wir von etwas berührt oder beunruhigt sind und unsere Beunruhigung darüber nicht einmal benennen können. Dieses Nichtwissen kann auch die Fragen selbst betreffen, wenn wir nicht wissen, ob wir sie eigentlich formulieren, ob der Ort, von dem aus wir versuchen, Fragen zu stellen, der geeignete ist. Ein Essay ist daher eine Art der Annäherung an Erkenntnisse, wobei zu allererst diese Erkenntnisse unser Erstaunen, unsere Fragen und Zweifel betreffen und dann erst das, woran diese Fragen gerichtet sind.» (2) Die so beschriebene Erkenntnisbewegung lässt sich in den Bildfolgen von Matthias Zielfeld entdecken. Es ist, und auf diesen Zusammenhang hat Vilém Flusser schon früh hingewiesen, die des methodischen Zweifels der Philosophie, nur dass an Stelle von Worten Bilder auftreten. Deren Bedeutungszusammenhänge sind nicht so allgemein geläufig wie die der Sprache, aber inzwischen schon weit darin fortgeschritten, in einem «Universum technischer Bilder» zur vorherrschenden Konvention zu werden. In seinem bemerkenswerten Buch «Gesten» schreibt Flusser über das Fotografieren: «...die Geste des Fotografierens, die eine Bewegung der Positionssuche ist und eine innere wie äußere Spannung enthüllt, welche die Suche vorantreibt – diese Geste ist die Bewegung des Zweifels.» (3) Fotografie wird so zum Erkenntnismittel und wir müssen ihr in einer Art visueller «Lektüre» gegenübertreten, wenn wir verstehen wollen, worum es dem Autor geht. Für mich erschließen sich Matthias Zielfelds Hefte als Versuch einer persönlichen Bildsprache, die alltägliche Erlebnisse als Straßenfotografien festhält und dabei um die allgemeine Frage kreist, wie sich unser gesellschaftliches Zusammenleben und dessen Ordnung im öffentlichen Verhalten und in den Gesten der Menschen ausdrückt.

Im normalen Bewegungsfluss wird eine Geste nahtlos von der nachfolgenden überschrieben oder gelöscht. Mit bloßem Auge prägen sie sich dem menschlichen Gedächtnis nur schwer ein. Wilhelm Genazino hat das in einem Essay über Porträtfotos von Schriftstellern sehr schön ausgedrückt: «Ein Foto leistet damit etwas, was unser natürliches, immerzu bewegliches Sehen nicht schaffen kann: Es zieht eine Zeitsumme, genauer: eine Zeitzwischensumme. Erst dieser Zeitsaldo, den ein Foto vor uns aufsummiert, verleiht unserem unruhigen Auge die Fähigkeit, selber statisch zu werden, damit es zu Betrachtungsergebnissen überhaupt kommen kann.» (4)
Walter Benjamin hat in zahlreichen seiner Schriften, u.a. in seiner Studie zu Brechts Epischem Theater über die Geste als «Figur des Realen» (5) nachgedacht. Er schrieb: «Das epische Theater gibt also nicht Zustände wieder, es entdeckt sie vielmehr. Die Entdeckung von Zuständen vollzieht sich mittels der Unterbrechung.« (6) Man kann hier für episches Theater ohne weiteres Fotografie einsetzen, denn Benjamin bemerkt im selben Text ausdrücklich, dass diese Vorgehensweise den technischen Formen damals neuer Medien wie Film und Rundfunk entspricht. Er versteht das epische Theater als gestisches Theater, das den Problemen menschlichen Handelns in der anbrechenden Moderne mit seinen Mitteln auf den Grund zu gehen versucht.
Erst durch ihre Unterbrechung wird die Geste also der untersuchenden Betrachtung zugänglich. Zeitlich eingefroren durch die fotografische Aufnahme versetzt sie uns in die Lage, innere Bewegungen unserer Psyche als Mimik und äußere als Körpersprache länger zu betrachten und zu vergleichen. Gesten weisen dabei über das Subjekt hinaus, werden in ihrer Unabgeschlossenheit und Unabschließbarkeit zum Teil des Geschehens.

Bei der Beschäftigung mit beiden Bildheften merkt man bald, dass in ihnen Fotografien verschieden verknüpft sind. Da gibt es Einzelbilder, die den ganzen Raum einer Doppelseite für sich beanspruchen, Bildpaare, die ihn sich teilen, aber auch Abläufe, in denen der Bildausschnitt von bis zu fünf aufeinanderfolgenden Fotos sich durch geringfügige körperliche Bewegungen des Fotografen nur leicht verschoben hat. Wir nehmen sie als Sequenz wahr. Die aufgenommene Situation erscheint dadurch gleichzeitig erhellt und in Frage gestellt. Wie passiert das? Indem sich fast immer zwei Bewegungen, die des Aufnehmenden und die des Aufgenommenen überlagern. Dem «so ist es» folgt unmittelbar ein «jetzt ist es so». Es gelingt nicht, einen Kulminationspunkt der Bewegung zu erkennen oder gar ein Ziel, höchstens ihre Richtung. Von Zufall kann aber auch nicht die Rede sein. Dafür steckt zu viel Logik in Abfolge und Unterbrechung. Es ist die Form der Bildsequenz, eingebettet in ein mit Einzelbildern skizziertes Umfeld, die beiden Heften als visuelle Spur ihren Stempel aufdrückt.

Die intuitive Bewegung des Fotografen und deren zeitliche Unterbrechung im Foto verändern auch den Charakter der Schnappschüsse. Sie wirken auf mich hier eher wie Zustandsprotokolle. Man erkennt das zum Beispiel daran, dass der Autor angeschnittene Personen am Bildrand zulässt und nicht zu Gunsten einer ausgewogeneren Komposition korrigiert. Des öfteren werden wir beim Betrachten der Aufnahmen auch Zeuge von Blickkontakten. Sie werden vom Fotografen als Reaktionen seines Gegenübers einbezogen. Zu sehen sind in den Gesichtern der aufgenommenen Personen Skepsis, Überraschung oder Verwunderung. Sie drücken damit ihren Zweifel an der Angemessenheit der Handlungen des Fotografen in der gerade erlebten Situation aus.

Bilder von unterbrochenen Gesten können uns vielleicht etwas sagen, was wir ansonsten nicht erfahren würden. Ich erkenne bei Matthias Zielfeld dafür Anhaltspunkte. Spürbar ist für mich auch das oben zitierte Erstaunen darüber, dass sich ihm als «Fotografen in Bewegung» Antworten zu Fragestellungen zeigen, die möglicherweise erst durch die eigene intuitive Praxis und Performanz entstehen.

Die erste Frage an ein Foto lautet fast immer: Was ist zu sehen? Sie ist Folge des Realitätsbezugs der Fotografie. Meist kann man sich darüber problemlos verständigen. Ein weiterführendes Interesse entsteht seltener. Wenn uns etwas fesselt, nicht los lässt, läuft unsere weitere Beschäftigung damit unweigerlich auf die Frage hinaus: Wie wird etwas gezeigt und warum gerade so? Hier beginnen die eigentlichen Schwierigkeiten, da individuelle Vorlieben und Geschmack schwer zu begründen und zu kritisieren sind. Matthias Zielfeld arbeitet für seine künstlerischen Aussagen in beiden Essays mit stark reduzierten Mitteln. Es scheint mir, dass er mit nur wenigen, sich wiederholenden Elementen unseren Blick auf das Offensichtliche zu lenken vermag.

Ich will nun mit Worten beschreiben, was ich auf den beigefügten Bildbeispielen aus Heft 7 konkret erkennen kann. Eine solche Beschreibung erweist sich nach meiner Erfahrung als hilfreich, wenn man tiefer in Bilder eintauchen will. Sie stellt, indem sie das Bildhafte übersetzt und benennt, den eigenen Seheindrücken etwas sprachlich Greifbares gegenüber.

Erstes Bild: Man sieht die Eingangssituation zu einem Geschäft, nicht ganz klar wofür, eine Tür ist offen hin zu einer dunklen Tiefe ohne weitere Anhaltspunkte, die andere ist halboffen. Wir erkennen hinter ihrer Scheibe ein Poster mit Hunden und dem halbverdeckten Schriftzug «...chen wir hier!». An sie angelehnt bemerken wir am Boden ein gerahmtes Poster mit süßlichen Katzenmotiven und Schutzecken, die ihm den Charakter einer Ware geben. Des weiteren sehen wir zwei Frauen in Bewegung, eine jüngere von der Seite und eine ältere von hinten, die gerade einen Schritt auf den Eingang zu macht. Der Gehweg wirkt etwas uneben, einzelne Platten sind verschoben. Auf der linken Seite sieht man einen Stapel mit vier gleichen Platten. Es sieht so aus, als wären sie bei einer provisorischen Reparatur übrig geblieben.

Zweites Bild: Dieselben Frauen stehen auf der linken Bildseite, schauen interessiert schräg nach unten, ohne dass zu sehen wäre, wohin. Der Fliesenboden lässt aber ahnen, dass beider Blick in Richtung des Katzenposters von Bild 1 geht, welches offenbar als Blickfang wirkt. Auf der rechten Seite kommen die Auslagen eines billigen Textilgeschäfts ins Bild, was unser Wissen über den Eingang von Bild 1 präzisiert. Von den Frauen sind jetzt die Gesichter von der Seite zu sehen. Ihre Nähe zueinander deutet an, dass sie zusammengehören.

Drittes Bild: Dieselbe Situation, nur dass die Frauen jetzt mehr in der Mitte stehen. Der Fotograf hat einen Schritt nach rechts gemacht, wahrscheinlich um die Gesichter von halb vorn zu erfassen. Die junge Frau hat auch einen Schritt nach vorn gemacht und die jetzt zutage tretende Ähnlichkeit der Gesichter lässt uns sicher sein, dass beide verwandt sind. Möglicherweise handelt es sich um Mutter und Tochter oder Großmutter und Enkelin. Sie blicken immer noch auf das Poster, haben sich aber vermutlich darüber ausgetauscht. Rechts unten erkennt man (wie auch auf Bild 2), dass der Gehweg noch nicht fertig gebaut ist. Man hatte es offenbar sehr eilig, zu eröffnen oder es handelt sich um eine Weiternutzung während einer Umbauphase, worauf das Provisorische der Präsentation hindeuten mag.

Viertes Bild, Doppelseite: Man erkennt erst auf den zweiten Blick, dass es sich um dieselben Personen handelt. Sie haben das Geschäft inzwischen wieder verlassen, man sieht es am Hintergrund. Die ältere von beiden ist vom rechten Bildrand abgeschnitten, man erkennt sie nur an Arm, Bluse und Tasche. Die jüngere ist als Halbporträt zu sehen, leicht in der Unschärfe. Es wurde etwas gekauft, aber das scheint schon wieder vergessen. Sie fasst sich an die Unterlippe, an die Stelle, wo sie ein Piercing trägt. Möglicherweise ist etwas damit nicht in Ordnung oder es schmerzt. Es scheint, als ob das ihre gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Der Hintergrund, obwohl ein wildes Konglomerat aus Konsum- und Baulandschaft mit Kleiderständern, Absperrgittern, Schaufenstern, einem weißhaarigen Passanten, wirkt nicht störend oder ablenkend.

Soweit mein Versuch, zweidimensionale Bilder in eindimensionalen Text zu übersetzen. Welche fotografischen Mittel können wir nun in den Bildfolgen erkennen und wie beeinflussen diese unsere Wahrnehmung?

Da wäre als erstes das Schwarz-Weiß der Fotografien zu nennen. Gewöhnlich steht es für «historisch», verweist auf zeitlichen Abstand oder eine Vergangenheit, in der farbige Fotos eher die Ausnahme, weil schwierig herzustellen, waren. Beides ist hier nicht der Fall. Die Entscheidung für schwarz-weiße Bilder muss eine künstlerische Begründung haben und damit eine bewusste Entscheidung sein. Am meisten leuchtet mir ein, dass der Verzicht auf Farbe die Aufmerksamkeit stärker auf das gestische Moment in den gezeigten Sequenzen lenkt. Sich wiederholende Farben, etwa in der Kleidung der Beteiligten, würden vielleicht dazu führen, dass wir anfangen, sie als eine Art abkürzendes Muster wahrzunehmen. Das verkörperte Gestische träte dadurch in den Hintergrund und wäre schwieriger herauszufiltern. Vorstellen kann man sich auch eine gewisse Affinität Zielfelds für das stärker abstrahierende Moment in der Schwarz-Weiß-Fotografie, der Umsetzung des fotografisch Aufgenommenen in eine Skala von Grauwerten. Dem Licht, einem der Grundthemen der Fotografie, wird so ein höherer Stellenwert und mehr Aufmerksamkeit eingeräumt. Ich vermute, dass für den Autor Licht und Beleuchtung durchaus Anlass sein können, zum Fotoapparat zu greifen. Und dann fällt einem plötzlich auf, dass die tief stehende, winterliche Sonne in Heft 10 nahezu alle uns von Matthias Zielfeld gezeigten Aufnahmen verbindet.

In beiden Heften beschränkt sich der Autor auf jeweils zwei Bildgrößen, wobei man in Heft 7 die fünf großformatigen Doppelseiten als Einzelbilder betrachten kann, denen eine hervorhebende, die Sequenz abschließende Funktion zukommt. Ansonsten befindet sich auf jeder Seite ein Foto, mit gelegentlichen Auslassungen der linken Seite, was wie eine Zäsur wirkt und wohl auch so gedacht ist.

Für Heft 10 ist auf solche Doppelseiten verzichtet worden. Die Bilder werden generell kleiner und tauchen vereinzelter inmitten von viel weißer Fläche auf. Gegliedert werden sie durch zeitliche Sequenzen. Mehrere kleine Bilder sind auf einer Seite übereinander angeordnet, manchmal in der Höhe versetzt. Sie können eine Korrespondenz auf der Gegenseite haben. Das Ganze verschiebt die aktionistische Vorgehensweise des Autors in die Vertikale, macht die Sequenzen als selbständige Elemente sichtbar. Die Gestaltung der Hefte wirkt angenehm einfach, aber wohl überlegt. Der Autor unterwirft sich nicht der Strenge eines konzeptionellen Ansatzes. Dadurch bekommt der Bilderstrom etwas Erzählerisches, was Abschweifungen und verschiedene Lesarten zulässt.

Unser Gemeinwesen würde mit dem Verschwinden einer wie auch immer ausgeübten Straßenfotografie vermutlich einen wichtigen Strang seines visuellen Gedächtnisses verlieren. Bemerken und bedauern werden das die nachfolgenden Generationen. Phänomene und Gesten sind Artikulationen unseres Daseins und Denkens. Als solche sind sie Beschreibungen der stattfindenden Gegenwart. Auf Fotografien festgehalten, schaffen sie oft Anlässe, sich zu erinnern, und damit die Vergangenheit zu befragen. Was bedeutet es, wenn uns diese Erinnerungsquellen abhanden kommen?

Matthias Zielfeld beschreitet mit seinen fotografischen Arbeiten eigene Wege in der Straßenfotografie. Er findet für sich Auswege aus dem skizzierten Dilemma, was ein Sich- Hineinbegeben in schwierige Situationen, die Existentielles berühren, einschließt. Seine hier besprochenen Arbeiten beinhalten durch den zeitlichen Abstand inzwischen selbst Erinnerungspotential.

Noch einmal sei hier Genazino zitiert, der das Aufnehmen und Betrachten von Fotografien als eine Art «Doppelstruktur» beschreibt und feststellt: «Der Fotograf verschleiert, dass er uns vorübergehend die Kompetenz eigenen Sehens bestreitet – und entschädigt uns zugleich für diese Beraubung, indem er unser eigenes Sehen mit seinen Bildern bereichert.» Worauf uns Genazino auch hinweist, und was wir bei aller von Fotografien ausgehenden Faszination, wie auch dem Reflektieren darüber, im Blick behalten sollten, ist «...die kälteste Wahrheit, die von jedem Foto ausgeht, die Wahrheit nämlich, dass wir immer nur Betrachter sind, weiter nichts. Wir wissen nichts, es fällt uns immer nur etwas ein.» (7)

 

Literatur:

  1. Bourdieu / Boltanski / Castel / Chamboredon / Lagneau / Schnapper
    Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, S. 94 deutsch von Udo Rennert, Europäische Verlagsanstalt 1981

  2. Marek Śnieciński im Ausstellungskatalog Arno Fischer, Fotografie, S. 9, deutsch von Bettina Eberspächer,
    Ośrodek Kultury i Sztuki we Wrocławiu, Galeria Miejska we Wrocławiu 2006

  3. Vilém Flusser in Gesten. Versuch einer Phänomenologie, S. 110, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main, 1994

  4. Wilhelm Genazino «Idyllen in der Halbnatur», S. 104, Hanser Verlag, München 2012

  5. Hyun Kang Kim «Die Geste als Figur des Realen bei Walter Benjamin»
    in: Bild und Geste. Figurationen des Denkens in Philosophie und Kunst,
    hrsg. von Fabian Goppelsröder und Ulrich Richtmeyer, Transcript Verlag, Bielefeld 2014

  6. Walter Benjamin «Allegorien kultureller Erfahrung», S. 240, Ausgewählte Schriften 1920-1940, Reclam Verlag, Leipzig 1984

  7. wie 4., S. 104 und S. 98

 

Bilder 1–4:

  • SAM_5898_web
  • SAM_5899_web
  • SAM_5900_web
  • SAM_5904_web