Der blinde Fleck, liebe Freunde der höheren Weihen, meine Damen und Herren, liebe Akademiegeschwister,
der blinde Fleck beschäftigt uns, der das – Sie verzeihen die zeitgemäße Wortwahl – Arschloch der Dinge umkreist, er läßt uns nicht los. Wir starren auf den alten Lichtschlucker und können es nicht fassen.
So viele Jahrtausende Mühsal, um festzustellen, daß wir am Ende wieder an der alten Weggabelung stehn. Möge es sein, daß ich mich da versteige, und möge es sein, daß wir ihn eben auch reziprok, umgekehrt verstehen können. Vorerst aber bekommt die Welt, nein, die ablaufende Weltgeschichte, die Schnabeltasse verabreicht, von einer Amme mit blonder, steiler Tolle die Geldbrust, wer kann das schon wissen.
Sei er in Gestalt der Unmengen Blödsinn, die passieren, oder eines gefönten Toupets, das sich aufschwingt, Präsident zu werden, unter uns … oder, eben umgekehrt, in der elfischen Erscheinungsform eines schönen Gedanken, der aber nicht sichtbar wird, in die Welt gekommen – es lohnt sich immer, ihn aufzuspüren, gegens Licht zu halten, zu erkennen. Blinde Flecken sind Botschaften wie Kassiber, Palimpseste, nun, Löcher in der Raumzeit, es wird nötig sein, sie zu entziffern und ihren Gehalt zu erwägen. Einen Champollion bräuchte es, die wirre Hieroglyphe des Unschlitts zu lesen, die um die Sessel der Mächtigen kreist, eine Harpyie aus hysterischem Krietschen und, auf der Rückseite, ein Versteck für jede Art Unsinn, der die Welt in eins hält.
Wir können nicht umhin, verdattert und zornig zu sein.
Würde es etwas nützen, wir wären viel öfter und viel mehr verdattert und zornig.
Anläßlich der zweiten Premiere eines Akademiealmanachs, der unter diesem firnen Motto mitsegelt, ist es gut, sich zu versammeln, das ist der Sinn einer Premiere, eines gemeinsamen Werks wie einer Akademie überhaupt. Es ist an sich schon ein schöner Gedanke.
Die gesellende Kraft, die eben das Sich-Einfinden hat, sie ist der Mörtel in uns, der lange nicht angerührt lag. Austausch in kollegialem Streit, in der zarten Anarchie die Blicke, Staunen und Zeigen. Das Umschiffen so abgelatschter wie ausgekatschter Gemeinplätze, Ausheben eben der blinden Flecke, die wie Wunden brennen; das Ridikülieren aufgesetzter Bräsig- und Lächerlichkeit.
Es wohnt darin der Wunsch nach gedimmter Ernsthaftigkeit, die man auch mal leugnen darf, aber eben nicht raushalten, wenn man nicht zum Löwenmäulchen-Club verkommen mag.
Ob es „schwankende Gestalten“ sind, die sich so uns, als die wir uns den anderen so nähern, es sei dahingestellt. Der Aspekt der Annäherung, in dieser Zeit ist er bereits etwas Tröstliches, den Entwöhnten erreichend und treffend.
Ob es die Nebelschwaden der „Other Voices“ von Robert Smith sind oder das jeweilige „Te Deum“ Bachs oder Pärts. Das Schwangergehen und Finden solcher Gemeinschaft, die ja, zumal, wenn sie sich aus hochgradigen Individuen zusammensetzt, ist es, worum es geht. Das Weiten der Blicke über den eigenen Arbeitsplatz, Werkberg hinaus.
Die Kunst, die ein Urhügel unserer menschlichen wie überhaupten Existenz ist, hat das verdient; und wir haben es verdient, in diesen Strömungen unserer Stimmen, Glieder, Gedanken Mast und Kiel zu sein.
Das Tuch, das den inneren Flug nach außen durchdringen läßt.
Die Läuterung, Osmose, auch wiederum Verunklarung und Emulsion, die die Kunst uns anbieten mag, sind die Grundhandgriffe gegen blinde Flecken, das „Elsterglanz“ und der Kitt unserer freien Versammlung.
Eine Akademie ist zunächst Gespräch, Unterweisung, aber auch Streit und Wettstreit um des Wettstreits willen. Sie ist ein Gebäude, ohne zunächst eines besitzen zu müssen. In ihr versammeln sich die Einsiedlerkrebse, um eine Gesellschaft der Einsiedlerkrebse zu bilden.
Auf dem Rücken dieser Idee mag dereinst das Haus der Akademie wachsen, mit Ammoniten, Quetzalfedern, Tonbändern, Laufmaschen, Kaffeeflecken geziert und geschmückt.
Ich weiß, es gibt viele Gründe, um eine Accademia zu begründen ... die Lust auf Anwesenheit etwa oder Würde und Akademie-Bärte; aber diese Aussicht auf einen Gesprächsraum und dadurch auch eine bergende Funktion für die zerbrechlichen Gelege ihrer Mitglieder hat mich von Beginn dieses Ansinnens an gereizt. Ein solcher, geistiger, künstlerischer Ort ist bereits ein erhebliches Mittel gegen Zerbrechlichkeit. Und gegen jede Form von Stimmlosigkeit. In einer Ära vieler neuerlicher Verluste ist das von großer Kraft und Wichtigkeit.
Und letztlich ist es vielleicht wie mit vom Aussterben bedrohten Tierarten zu sehen: damit der hochedle Spix-Ara nicht eingeht, darf man die letzten 96 Exemplare seiner Art nicht dauerhaft in getrennten Volieren halten.Nun scheint der Spix-Ara gerade noch gerettet. Aber das Javanashorn, es lebt noch und ist doch schon ausgestorben. Die Wege, sich zu treffen, verloren sich. Und das möge uns zwischen den Wänden aus blinden Flecken erspart sein.
Hohe Worte, ja, für Künstler zumal, die sich ihre Existenz nachgerade aus einer Art hoher Vereinzelung bauen müssen. Vielleicht ist die Akademie ja wiederum eine Art große Voliere, nicht im Sinn eines Käfigs oder einer Reuse, sondern mit freien und gemeinsamen Geländen, durch die wir gibbonärmig hangeln, wer weiß.
Ich wünschte mir das – einen Ort, sei er wie er sei, unter einem Dach oder einem Schirm, unter dem immer noch ein Platz unbesetzt bleibt, für den Fall, man hat etwas nicht bedacht oder zu Ende gedacht, dann sei dieser vakante Sitz eine Einladung an die der Kunst zugewandte Welt. Unter den letzten Dingen zählt die Kunst zu den schwierigsten und ungewöhnlichsten Kräften, ihr Rätsel ist zugleich ein halb gelöstes, ihr Vorhanden-Sein erklärt unseren seltsamen Status unter den Dingen, Amöben und Wesen. Eigentlich ist sie ein Teil der Würde aller, und wir sind angehalten, sie auf unsere Weise, in unserer Sicht auf eine wie auch immer geartete Freiheit zu verwalten.
Der blinde Fleck, meine Damen und Herren, ist auch eine allfällige Vision dessen, was uns umgibt. Mit Blindheit durch die späten Wälder der Aufklärung zu torkeln, es wirft uns weit hinter die Sozialität der Schimpansen zurück. Die Geilheit einer zynischen Attitüde, sie beschäftigt uns, weil wir meinen, weiter zu sehen. Und was zu erblicken ist, es drängt viele unserer Sorgen zurück, ohne sie im Schwall der großen Sorge aufgehen zu sehen. Letztlich ist das Arbeit für Politiker. Aber in einer so auf die Denk-, Schrei- und Diskutierlust ausgerichteten Zeit, die zugleich mit brachialer Blödheit hantiert, sollten wir den Mut in uns halten; als Accademia, denke ich, sollten wir sogar die Pflicht und Verpflichtung dazu besitzen.
Von daher hoffe und wünsche ich, daß wir die Flecken, an denen wir leiden, angehn; und daß wir das Maß an Unerschrockenheit, das uns als Möglichkeit innewohnt, nutzen und beibehalten. Und sei es in Almanachen und Sit-Ins. Sie sind ein Teil unserer Würde und unseres Selbstverständnisses. Wo ein Almanach ist, herrscht nicht mehr die Leere, das Vakuum, das sei anderen überlassen, denen wir auf die Finger schaun.
Mögen sich die blinden Flecke noch wundern.
Vielen Dank.