Geheiligte Plätze sind nur schwer zu finden; und dann ist stets auch die Frage, wem sie heilig sind. Die grundlegende Idee der Sanctuarien des niederländischen und seit langem im Steigerwald ansässigen Künstlers herman de vries ist einfach und dennoch ein komplexer Prozess: innerhalb eines umfriedeten Bereichs  bleibt die Natur völlig sich selbst überlassen und  kann ungehindert wachsen. Und das auf Dauer.

Auch wenn der Stuttgarter Stadtplan das Sanctuarium ausweist, findet man es nicht ganz leicht, wenn man sich auf den Weg dorthin macht. Man soll am Nordbahnhof aussteigen: das ist noch relativ einfach. Auch dass es im „Leibfriedschen Garten“ angesiedelt ist, lässt sich auf dem Plan leicht ausmachen. Dann jedoch ist es nicht so einfach, denn man befindet sich in einem städtischen Park, der steil bergan steigt. Von Abbildungen hatte ich eine Situation mit einem Geländesattel in Erinnerung. Als Fahrradfahrer weiß ich, dass ein solcher Sattel eine Anhöhe ist und dass ich kräftig steigen muss. Die genaue topographische Lage jedoch ist nicht so einfach ausfindig zu machen. Wallfahrtskirchen machen es einem leichter: sie sind aus naheliegenden Gründen in der Regel auf einem bereits landschaftlich bereits akzentuierten Ort platziert worden.

Zunächst orientiere ich mich zu einem erkennbar höchsten Punkt der Gegend. Kein geringerer als Paul Bonatz, der Architekt des alten Stuttgarter Hauptbahnhofs, hatte diese Flakstellung als interessanten Aussichtspunkt auf die Stadt vorgeschlagen. Der Ausbau der Stelle ist eine Art offener Turmstumpf und  besteht aus massiven Quadersteinen. Vier sehr steile Treppen führen neben einem als Spirale verlaufenden Fuß- und Radweg zu dieser Anhöhe hoch und lassen das Ganze fast Zikurrat-artig aussehen. Ist das Sanctuarium etwa hier? Es sind Treppen mit höchst unregelmäßigen, fast naturbelassen wirkenden Stufen, die man niemandem mit irgendeiner kleinen Gehbehinderung empfehlen würde. Oben angekommen erweist sich dieser Aussichtspunkt als ein wortreich kommentiertes Plateau. Metalltafeln auf der umfassenden Mauer merken eine ganze Menge zur architektonischen Entwicklung von Stuttgart an - durchaus auch kritische Punkte. Mittlerweile haben Graffiti diese Erläuterungen derart überlagert, dass sie fast nicht mehr zu lesen sind. Auch das scheint eine Form der Geschichtsschreibung zu sein. Stuttgart ist ja nicht zuletzt bekannt für seine oft handgreiflichen bürgerlichen Einmischungen in offiziell gefasste Pläne.

Aber wo ist das Sanctuarium von herman de vries? Vom Bonatzschen Aussichtspunkt aus kann man es nicht sehen, einen Hinweis oder Kommentar konnte ich auch nicht finden. Offensichtlich hat es der Künstler nicht am höchsten Punkt angeordnet. Der Blick von einer nahe gelegenen Fahrradweg-Brücke über eine sechsspurige Straße lässt erkennen, dass der eigentliche Sattel noch ein wenig weiter entfernt liegt. Und tatsächlich, dort, gewissermaßen geduckt im Schatten der Straße, an der Stelle wo sie den Sattel überquert, und haarscharf an der Verzweigung von zwei höchst frequentierten Bundesstraßen, kann man die charakteristischen vergoldeten Metallspitzen des umgebenden Zauns erkennen – zumindest wenn man mit dem Werk von herman de vries ein wenig vertraut ist.

Jetzt muss man sich nur noch auf dem Weg dorthin machen. Aber das ist keineswegs einfach. Das ausgebaute und von Elektroradlern hoch frequentierte Wegenetz reicht nur bis in die Nähe. Hinter einem eher dezenten Hinweisschild erstreckt sich hüfthohes Gras und kein Weg. Also bahne ich mir einen Weg durch dieses Gras - und frage mich gleichzeitig, ob ich jetzt nicht schon ein Stück dieses Szenarios zerstöre, in dem Natur sich selbst überlassen bleiben sollte. Und es geht steil bergab. Da muss ich aufpassen, um nicht auszurutschen; im hüfthohen Gras nimmt man Bodenunebenheiten oder die kleinen auftauchenden Ameisenhügel nicht auf Anhieb wahr. Am Zaun angelangt sehe ich schließlich nicht nur die gesamte runde Anlage um einen Bereich, der inzwischen doch wieder beträchtlich zugewachsen ist, sondern auch inzwischen ausgeblichene, ehemals schwarze Stoffbänder. Sie waren ein Protest von Bürgern, als 2018 das Gartenamt der Stadt Stuttgart das 1993 offiziell in Auftrag gegebene Kunstwerk ungefragt rasierte und damit bis auf den Zaun zerstörte. Ich konzentriere mich auf die Situation dieses Zauns. Ist er tatsächlich eine Grenze zwischen der Zivilisation und der sich selbst überlassenen Natur innerhalb des umfriedeten Sanctuariums? Es wirkt eher wie eine weiche Grenze. Allerdings sind die Bäume im Inneren des Zauns doch wieder schon beträchtlich gewachsen, auch wenn die Zerstörung dieses Platzes durch die Stadt Stuttgart erst wenige Jahre zurück liegt.

Ich versuche um das Sanctuarium herum zu gehen und stelle fest dass das wegen seiner  Hanglage durchaus nicht einfach ist. Wahrscheinlich ist überhaupt nicht vorgesehen, was ich hier tue. [Später auf dem Rückweg wird mir auf dem Radweg ein Polizeimotorrad begegnen, aber ich werde niemals wissen, ob das mit meinem Besuch zu tun hatte.] Aber mich interessiert insbesondere die Seite, an der das Sanctuarium genau dem Geländesattel und den stark frequentierten Bundesstraßen gegenüber liegt. Anscheinend hat herman de vries genau diesen Kontrast gesucht und den automobilen Strömungen dieses Heiligtum gegenüber gestellt. Ob das jemand wahrnimmt, aus der Perspektive hinter dem Lenkrad des heiligen Blechle, wie man hierzulande sagt?

Anscheinend passiert so ein Besuch zu Fuß, wie ich ihn unternehme, selten. Nach kurzer Zeit gesellt sich ein Schachbrettfalter zu mir. Ich glaube, so einen Schmetterling habe ich in natura noch nicht gesehen. Beim Verharren und Aussuchen eines Besseren Standpunktes für ein Foto entdecke ich auch noch eine große Heuschrecke. Jahreszeitlich passt dieses Tier, aber ansonsten: wann sehe ich eigentlich überhaupt einmal eine Heuschrecke? Kann es sein dass das Sanctuarium tatsächlich auch ein Zufluchtsort ist, ein besonderes Biotop? Allerdings bin ich alles andere als ein Biologe. Ich begebe mich auf den Weg zurück und achte darauf den gleichen Weg zurück zu nehmen, um nicht noch mehr Gras zu zertreten. Und ich muss zugeben, dass ich mir Sorgen mache: könnte eine Zecke die Gelegenheit nutzen, um mit mir gemeinsam einen Weg in die Zivilisation zu finden?

Etwas weiter des Wegs in Richtung zurück zum Nordbahnhof finde ich drei Metallbänke. Sie sind ausgerichtet, um einen entspannten Blick auf das arg zersiedelte Tal und die umgebenden Hügel zu werfen. Die Situation nutze ich, um meine ersten Eindrücke festzuhalten. Bald werde ich in Stuttgart Hbf umsteigen müssen, genau dem Bahnhof, der immer noch auf seine Ankunft im 21. Jahrhundert wartet und in seiner grundsätzlichen Planung eigentlich eine Kehrtwende bedeuten will. Als ich dort auf den Zug warte, fallen mir etliche wild gewachsene Pflanzen auf, entlang der noch sehr langen Bahnsteige. Sie haben die Vernachlässigung dieses verkehrstechnischen Bereichs genutzt, um auch selbst existieren zu können.

 Johannes Stahl

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Fotos: Johannes Stahl