Ende September 2016 trafen wir Hartmut Geerken zum ersten Mal, auf dem Radiorevolten-Festival in Halle. Wir luden ihn ein mit uns gemeinsam zu kochen und zu speisen, und so verlängerte er seinen Aufenthalt, wir okkupierten die ehemalige Hotelküche der „Goldenen Rose“, und hatten einen großartigen Abend zusammen. Seitdem blieben wir in einem engen Kontakt, Hartmut informierte uns regelmäßig über seine Unternehmungen, wir ihn über unsere, Emails, Briefe, kleine Kunstwerke gingen hin und her. Wir planten einen Doppelabend mit ihm unter dem Titel „heliozentrale Perspektiven“, je einen Abend über Salomo Friedlaender, und einen über Sun Ra. Beide Abende wurden wegen der Corona-Beschränkungen verschoben, ein weiteres Mal verschoben, und dann ganz abgesagt. Wir haben in Hartmut Geerken den großen, universellen Künstler, den wirklich freien autonomen Denker, den leidenschaftlichen lebensnahen Aktionisten und verbindlichen Menschen geschätzt, ja verehrt.
Hartmut Geerken ist am 21. Oktober 2021 gestorben.
In den letzten Emails schickte Hartmut Interviews und Audiolinks, die ich hier verlinken möchte:
https://tuxamoon.de/ich-fuhle-mich-in-meiner-mir-selbst-auferlegten-marktunterlegenheit-sehr-wohl/
Porträt: Lichtungen im Dickicht des Hartmut Geerken - Faust Kultur
Auszüge aus unserem Gespräch mit Hartmut Geerken am 21. Oktober 2016:
Ihr könnt Euch ganz beruhigen - diese Musik die ihr hört bedeutet Nichts.
...
T.B. (Thomas Blase) Wie kommt man als Künstler in so ein Amt, Programmabteilung im Goethe-Institut?
H.G. (Hartmut Geerken) Na ja, also die wußten nicht daß ich Künstler bin. Wir haben Orientalistik studiert, das heißt Islamwissenschaft, wir sprachen Arabisch, Türkisch und Persisch. Und das Goetheinstitut suchte damals dringend Leute mit Kenntnissen solcher Sprachen. Und da haben wir uns beworben, einfach als Sprachgenies sozusagen. Und wurden dann auch angenommen. Und das Goetheinstitut hatte immer so einen - wie soll ich sagen, die wußten das nie, daß ich Künstler bin. Und ich hab da vorhin beim Hergehen drüber gesprochen, wir haben eine fünfwöchige Afrika-Tournee gemacht, außerhalb des Goetheinstituts, in meinem Urlaub vom Goetheinstitut, das Goetheinstitut war nirgends beteiligt sondern nur die Botschaften und lokalen Kulturinstitutionen. Und das war eine sehr erfolgreiche Tournee, wunderbar. Und etwa ein halbes Jahr, oder ein paar Monate später kriegte ich von einem Freund, der war damals Botschafter in Sierra Leone, die Kopie eines Briefes vom Goetheinstitut an alle Veranstalter bei denen wir in Afrika Konzerte gemacht haben. Und in diesem Schreiben stand drin, daß die Veranstalter doch bitte in Zukunft Abstand nehmen sollen Konzerte mit mir zu machen, denn Geerken sei kein repräsentativer Musiker der deutschen Jazzszene. Ein vertrauliches Schreiben, ganz confidential. Und dieser Freund hat mir das dann ebenso vertraulich mitgeteilt. Ich hab in Deutschland nie Kontakt zur Szene gehabt, weil ich ja meistens im Ausland war. Ich hab also überall, in ganz Europa, Freunde, da kommen meine Platten raus, in Deutschland aber nicht. In Deutschland kennt mich niemand. Daher kommt das. Aber das Goetheinstitut war als internationale Institution nicht so weit orientiert, ja. So war das. Ich hab dann von diesem vertraulichen Schreiben wieder eine Kopie gemacht, und hab die an den Generalsekretär des Goetheinstituts geschickt mit einem Begleitbrief worin stand: hiermit schicke ich Ihnen die Kopie eines Schreibens. Ich bitte um Stellungnahme. So wie er immer Briefe schrieb, so habe ich ihm zurückgeschrieben. Na ja, das würde jetzt zu weit führen, das verlief dann im Sande.
M.K. (Michael Klante) Was ich auf jeden Fall interessant finde ist einerseits diese Freilegung der afrikanischen Wurzeln des Jazz, - und andererseits würde mich interessieren: was passiert, wenn ich wirklich in einem Dorf Afrika, als Au-pair mit einem europäischen Hintergrund deren Musik quasi wieder zurückbringe in so einer transformierten Form. Also diesen Moment stelle ich mir extrem interessant vor.
H.G. Also wir konnten, Moye und ich und Tchicai, der dabei war, wir konnten praktisch kein Konzert im Trio spielen, das war völlig unmöglich. Wir fingen an zu spielen. Nach zwanzig Minuten stand der erste Afrikaner bei uns auf der Bühne und hat da mitgetrommelt.
Und es war dann natürlich auch so, daß wir, Tchicai nicht, aber Moye und ich, wir gingen dann auch runter von der Bühne, ins Publikum rein, und waren dann verschollen. Da gibt’s dann, auf einer Platte ist das sogar drauf, da hört man Moye rufen von der Bühne: Mister Geerken, Mister Tchicai, Mister Geerken, Mister Tchicai, Mister Geerken, Mister Tchicai, please come to the stage!
W.K. (Wieland Krause) Interessant ist ja, was ihr mitbringt ist ja was, was möglicherweise gar nicht so rhythmisch ist, und wird das nicht durch die Leute, die sich dann plötzlich wie in einer Session einspielen, rhythmisiert? Die Afrikaner haben ja einen ganz starken Rhythmus.
H.G. Nicht nur. Die Afrikaner haben auch eine völlig unrhythmische Musik. Gerade in der rituellen Musik, da haben sie zum Teil nur einen Ton – so wie ich da mit der Arghul, wo nur ein Ton rauskommt.
W.K. Wo kommt das Instrument her?
H.G. Aus Nubien.
W.K. Das ist ja ein unglaublicher Ton. Dieser Zweiklang zwischen den überblasenen Tönen und den tiefen Tönen die dann bassig werden, und dieses Stecksystem, ein tolles Instrument!
H.G. Also ich kann dieses Instrument überhaupt nicht beherrschen. Es spielt mit mir. Ich laß dem Instrument seine Freiheit. Ich biet ihm meine Luft. Aber ansonsten ist das auch wunderbar was das so von sich aus bringt, ja. Die Überblas-Sachen, und die Verzerrungen. Arghul heißt das Instrument. Und das ist das Urwort der deutschen Orgel. Orgel ist ein afrikanisches Wort. Das ist ja ein Orgelton fast, eine Orgelpfeife.
L.K. Und ist das ein rituelles Instrument?
H.G. Das ist ein rituelles Instrument in Nubien, also im Südsudan.
T.B. Das ist so ein Punkt wo der bildende Künstler immer ein bißchen den Musiker beneidet, um diese Universalität im Miteinander, also zum Beispiel was Du grad gesagt hast, daß man als Europäer in Afrika Musik macht und sofort steigen die Afrikaner ein und machen mit, davon ist man als Maler relativ abgeschnitten.
H.G. Davon träumt der Maler. Gibt’s das überhaupt, die Öffnung der Malerei, offene Malerei, gibt’s das überhaupt? Also es gibt offene Literatur, es gibt offene Musik. Offene Kunst?
T.B. Ich hoffe das sehr. Es gibt die abstrakte Malerei die sich über Assoziationen mitteilt …
H.G. Ja aber da ist doch auch wieder nur einer beteiligt!
W.K. Nee, also sowas gibt’s schon. Es gibt solche Konzepte. Die Kollaborations wo in Gruppen zwei oder drei Leute malen. Die Zebra-Gruppe, die haben miteinander interagiert in der Malerei und haben da auch Aktionen gemacht.
H.G. Es geht dann eher so auf die Schiene Happening.
W.K. Ja, also absolut, performativ, Happening, … dynamische Sachen.
T.B. Für mich ist Malerei ja auch in dem Sinne kein Absolutum, wo das Bild ist was es ist, sondern es entsteht zwischen dem Bild und dem Betrachter, der seine Erfahrungen und Kulturprägungen mitbringt und dementsprechend auf das Bild reagiert. Da entsteht eigentlich die Malerei. So wie sie zuvor zwischen dem Maler und seiner Leinwand entsteht.
H.G. Aber so war das früher bei der Musik genauso, und bei der Literatur. Der Autor hat geschrieben und der Leser war das Gegenüber.
T.B. Und insofern ist vielleicht ein Bild das in Europa gemalt wurde und in einem anderen kulturellen Kontext gezeigt wird, dort was völlig anderes als hier.
M.K. Da hattest Du vorhin noch ein sehr schönes Beispiel genannt, wo ihr versehentlich die falschen Töne gespielt habt …
H.G. Das war in einem Ort in Guinea, einem kleinen Dorf, es gab keine Straße dort, keine Bahn, sondern wir sind mit einem kleinen Flieger, ich weiß nicht mehr was es war, ich glaub ein Fieseler Storch war es nicht, aber in der Größe etwa, ein bißchen größer, wir waren zu viert, plus Pilot waren wir voll besetzt. Und der flog uns dahin. Wir sind auf dem Sportplatz gelandet. Es war eine Titan-Mine. Mitten im Busch, ja. Eine amerikanische Titan-Mine. Und Moye hat von dieser Gesellschaft irgendwie Geld bekommen für diese Tournee. Da mußten wir dort dann spielen. Dann wurden alle Arbeiter der Titan-Mine dort eingeladen zum Konzert zu kommen. Da waren wir dann voll besetzt, dreitausend Leute waren das im Saal. Und da haben wir gespielt, und im Nachbardorf haben wir dann auch gespielt. Und in einem Moment als Tchicai mit dem Saxophon, Moye mit einem Muschelhorn und ich mit der tibetischen kleinen Langtube da, wo ich gestern abend damit gemorst habe, sehr lange langgezogene Töne spielten, sprang plötzlich in einem Moment das Publikum auf und wir sahen nur noch Rücken, keine Gesichter mehr, die Frauen hatten ihre Kinder versteckt. Innerhalb von dreißig Sekunden war die Halle leer. Niemand mehr da. Wir haben natürlich aufgehört. Ich sagte dir schon, mein erster Eindruck war: war da vielleicht eine Invasion von Giftschlangen oder sowas? Keine Ahnung was das war. Und da hat der Veranstalter das erklärt nachher, ja, ihr habt rituelle Töne gespielt von unseren Priestern, die im heiligen Hain die Geister rufen mit diesen Tönen. Und wenn die Geister erscheinen, dann dürfen die Priester mit denen in Kontakt treten, aber keine normalen Sterblichen dürfen die Geister sehen weil die dann sofort tot umfallen, oder sowas ähnliches. Es ist ein großes Unglück, wenn ein sterblicher diese Geister sieht. Und wir haben durch Zufall, ich weiß nicht, ganz tief unten irgendwie hat sich das begegnet, was wir machten, und was die kannten, in den tiefsten Regionen des Bewußtseins wahrscheinlich. Und nach einer Zeit haben die dann mit dem Publikum geredet, und da kamen die da wieder rein, und dann kam der Afrikaner, der uns begleitet hat, und der ging dann auf die Bühne und hat gesagt: Also ihr könnt Euch ganz beruhigen. Diese Musik die ihr hört bedeutet Nichts. Das war eigentlich die beste Interpretation unserer Musik, ja.
M.K. Auf der anderen Seite fragt man sich ob das eben wirklich nichts bedeutet, denn ich finde ja diese Freilegung der afrikanischen Wurzeln dieser Musik ist ja eine große Bewegung.
H.G. Ja wir haben uns eigentlich nicht bewußt zu den Wurzeln bewegt. Wir haben unsere Musik gespielt. Wir haben uns nicht angepaßt. Nicht daß wir nun besonders rhythmisch spielen. Aber es entwickelte sich halt so, es ist offene Musik. …
Moye und ich haben noch nie ein Wort über Musik verloren. Nie. Auch keine Vorbereitungen, wie fangen wir an, oder wie machen wir das. Auch am Schluß, wir reden nie wie´s war, so das hast Du aber toll gespielt, oder die und die Stelle war fantastisch – nie! Das gibt’s gar nicht. … Es entwickelt sich einfach etwas aus einem anderen heraus. Es ist ein Spiel mit Inspiration, und Anregung, er spielt irgendwas, ich fühl mich dadurch angeregt da weiter zu machen – im Fluß sein, fließen. …
Da war ein Moment gestern; ich erinnere mich dran, (ich erinnere mich nicht an viel, was ich gespielt habe, ich bin da immer wieder erstaunt, wenn ich die Aufzeichnungen höre), aber daran erinnere ich mich, da haben wir ´ne ziemliche anarchische wilde Sache gespielt, und unmittelbar danach habe ich mit den kleinen Jinglebells so ganz Zartes gemacht, da dachte ich, ja das ist mal ein Kontrast dazu, das war ´ne Entscheidung. Aber sonst, das ist eigentlich selten bei mir. …
M.K. Da gab’s übrigens gestern auch ein Kind, das ist halt rhythmisch gesprungen …
H.G. Wirklich, ja? Irgendwann gab’s gestern auch Schreie von den Kindern, immer wenn wir laut waren. Und dann dachte ich, hoffentlich schreit das Kind nochmal, wenn wir auch leise sind. Ich wäre dann ans Mikrofon gegangen, und hätt gesagt: „I like Babys“. Charles Mingus. Das hat der mal in einem Monterey-Konzert gesagt, als ein Kind da rumgekräht hat, „I like Babys“.
Es ist auch alles möglich, alle Musikdinge sind möglich, außer klassischer Musik, auch Elektronik und so weiter. Ich habe gestern Abend zum ersten Mal einen Synthesizer unter meinen Fingern gehabt. Ich kenne das nur von Sun Ra.
W.K. Da muß ich jetzt nochmal darauf zurückgreifen. Ich habe gehört, daß du ein Archiv von Sun Ra verwaltest. Der ist ja unglaublich angegriffen worden. Ich find das nach wie vor eine absolut faszinierende Gestalt, und natürlich ein glänzender Selbstdarsteller der eine große Ausstrahlung hat, aber natürlich die Musik ist nach wie vor ein echter Maßstab.
H.G. Das Sun Ra Arkestra ist nur zu vergleichen mit Duke Ellington oder Count Basie in der Vergangenheit, fürs 20te Jahrhundert. Also nämlich das Art Ensemble of Chicago und das Sun Ra Arkestra waren Die Gruppen.
Zu mir kam nachher einer und sagte: also das was du da auf dem Synthesizer gemacht hast, das fehlt heute dem Sun Ra Arkestra. Da gibt’s jetzt keinen Elektroniker mehr, das fehlt der Band.
Ja, Sun Ra war ein ganz wichtiger Mann.
S.B. (Silvio Beck) Arbeitet ihr bei den Konzerten eher über-, sagen wir mal über das dialogische Wahrnehmen? Oder sagt einer von Euch auch mal: So, jetzt muß ich mal richtig was dagegen setzen?
H.G. Ja, ja, klar.
S.B. Also das ist auch ein Kampf dann zwischen Euch.
H.G. Natürlich!
M.K. So habe ich das aber auch wahrgenommen. Ihr habt euch manchmal verständigt. Und manchmal gab´s aber auch, so hatte ich das Gefühl, so einen Eingriff. Ich weiß nicht, ob man das hinten auch gesehen hat.
Du bist ja auch ein Sammler von Instrumenten.
H.G. Ja, ich hab die Instrumente gesammelt.
M.K. Und die werden präsentiert. Ich denke das ist ja auch ein Reiz.
H.G. Das ist ein optischer Reiz, natürlich. Die Harfe, die ich da hatte, dieses Saiteninstrument, das hat mir Sun Ra 1971 in Kairo geschenkt. Seine Sonnenharfe. Er kam nicht aus dem Hotel raus. Er mußte zum Flugplatz und kam nicht raus, weil er nicht genug Geld hatte um die Hotelrechnung zu zahlen. Da habe ich ihm die Hotelrechnung vollends bezahlt und dann hat er mir dieses Instrument gegeben, und hat gesagt: ich kauf die dann wieder zurück wenn ich Geld habe. Es ist aber nie dazu gekommen. Ja, das war normal bei Sun Ra so. Als er in Athen gespielt hat gab’s eine Telefonrechnung im Hotel von über 1000 Dollar, weil die Musiker telefonierten natürlich alle mit ihren Geliebten in New York oder Chicago. Und das geht ins Geld. Und der Veranstalter hatte auch nicht so viel Geld. Doch – der hat ihn bezahlt, und Sun Ra hat ihm dann eine Kassette gegeben, mit der Veröffentlichungsmöglichkeit. So hat er gelebt wenn er Touren gemacht hat. Er hat ja unendlich viele Touren gemacht. Einmal ist er siebenmal in einem Jahr nach Europa gekommen, sieben Tourneen nach Europa. Man muß sich vorstellen, das ist eine unglaubliche Belastung auch. Und da hat er sicher viel Geld verdient, Honorare und so. Aber als er nach Philadelphia wieder zurück kam war er also völlig blank, war nichts übrig.
...
S.B. Also weil Du vorhin gesagt hast, ihr sprecht nicht drüber, auch im Vorfeld nicht, …
H.G. Mit Klängen kann man sich ja viel besser verständigen als mit Wörtern, mit Sprache. Sprache ist ja sowas von primitiv.
W.K. Man kann sich verletzen. Man kann sich mit Musik und Klang auch verletzen. Es ist ein höchst intimer Kontakt der da entsteht.
S.B. Was findest du im Gegensatz zu Tönen an der Sprache so trivial, kannst Du das so ein bißchen beschreiben?
H.G. Ich habe ein großes Mißtrauen gegenüber der Sprache, ein ganz großes Mißtrauen.
S.B. Auf der begrifflichen Seite? Hat das was mit Macht zu tun?
H.G. Nee. Mit Mißverständnis. Ich rede mit dir und sage irgendeinen Terminus, und du verstehst was ganz anderes.
T.B. Aber das läßt sich auf alles übertragen, Malerei, Bild, bei Klängen vielleicht sogar, wenn zum Beispiel die Afrikaner da plötzlich was ganz anderes hören als Du meinst zu spielen.
H.G. Jaja, aber das ist weniger gefährlich. Malerei. Das ist weniger gefährlich. Weniger gefährlich als Sprache. Sprache ist das Kommunikationsmittel von Politikern. Da merkt man doch – also die Dialoge zwischen dem Westen und dem Osten jetzt mit Putin, das ist doch nur ein ganz riesiges sprachliches Mißverständnis.
T.B. Ich glaube, das ist ein Mißverständnis, das über Sprache hinaus geht.
H.G. Du meinst Betonhirne auf beiden Seiten.
W.K. Es will so gesehen werden wie es gesehen wird, Also es ist schon Absicht dahinter.
L.K. Hier geht es auch um die Bereitschaft etwas zu verstehen.
H.G. Etwas verstehen zu wollen. Ich finde das so traurig, ja. Die Merkel spricht fließend Russisch, und der Putin spricht fließend Deutsch. Ja was ist denn da los zwischen den zweien? Was soll denn das? …
T.B. Ja, das ist das größte Thema im Moment, das was unheimlich Sorgen bereitet.
H.G. Ja.
T.B. Und ich vermute, daß da auch eher das Unverständnis Thema ist, als der Versuch einander zu verstehen. Also um Verstehen geht’s grad gar nicht.
H.G. Gut, das Wort Freiheit ist zum Beispiel so ein Wort. Jeder versteht was anderes unter Freiheit. Vor allem im politischen Bereich.
S.B. Ein korrumpiertes Wort. Ich hab manchmal den Eindruck daß die Sprache eine ähnliche Qualität oder Nichtqualität wie Wasser hat. Es kann extrem stillstehen, trübe sein, kann verdunsten, kann alle möglichen Formen annehmen, also es ist im letzten Sinne und im schlechtesten Sinne ein Medium und kann auch vereisen …
H.G. Tau. Ich sag immer Freundschaft ist wie Morgentau, er läßt sich nieder auf Blumen und auf Scheißhaufen.
T.B. Das ist Poesie!
S.B. Aber Freiheit! Das ist ein super Thema weil -, also ich hau einfach mal die Frage in den Raum, welche Rolle spielt für dich noch Stirner?
H.G. Stirner!
S.B. Ja. Also der Individual-Anarchismus wenn man so will …
H.G. Der Künstler muß eigentlich -, muß die einzige Freiheit haben können Grenzen zu überschreiten, außerhalb von Grenzen tätig zu werden. Das ist für mich die Hauptsache.
S.B. Der Einzige und sein Eigentum. … das ist ja sicherlich diskursiv in gewisser Weise, aber ich finde manche Begriffe muß man eben auch zurückerobern. Also dieser inflationäre Begriff der Freiheit in der Gesellschaft, mit dem furchtbares Schindluder getrieben wird, …
M.K. Als Kriegsvorwand …
S.B. … Kriegsvorwand, was weiß ich …
H.G. Demokratie bringen, Freiheit in der Politik, das Demokratieverständnis unserer Vorzeige-Demokratie USA …
Demokratie ist genau so ein Wort wie Freiheit. Ähnlich problematisch. Die Amerikaner bezeichnen sich ja immer noch als Demokratie. Das hat doch mit Demokratie nichts mehr zu tun was da passiert.
S.B. Also der Stirner, war der für dich wie so´n Anstoß in einer Lebensphase, oder ist er für dich immer noch eine wichtige Figur für dich?
H.G. Ganz wichtiger Mann gewesen in seiner Zeit. Und auch heute noch. Es gibt ja noch Stirnerschulen heute. In Westberlin, Knoblauch heißt der, der macht immer wieder Stirnerzeitschriften, veröffentlicht Faksimiles in wertvollen teuren bibliophilen Ausgaben.
Ich kam eigentlich zu Stirner über Anselm Rüst. Das war Der Stirnerianer im 20ten Jahrhundert in Deutschland. Anselm Rüst, mit bürgerlichen Namen Ernst Samuel, das sind ja die Buchstaben, ein Anagramm, und der war Stirnerianer. Er hat da ´ne Zeitschrift herausgegeben mit dem Titel „Der Einzige“. Und die erschien erstmals 1919, und bis in die späten 20er Jahre. Er hat eine neue Zeitrechnung eingerichtet für seine Zeitschrift, das Jahr soundsoviel nach Stirner, nicht NCR sondern NST. Und ich kam auf ganz seltsamen Wegen dorthin. Ich hab mich als Student schon sehr für den Expressionismus interessiert, für den literarischen Expressionismus. Und da gab´s 1960 in Marbach am Neckar im Schiller-Nationalmuseum, dem deutschen Literaturarchiv heute, die erste Ausstellung zum literarischen Expressionismus, eine Epoche-machende Ausstellung, die später auch in New-York gezeigt wurde und überall in ganz Europa. Und ich war damals Student, hatte kein Geld um die Ausstellung besuchen zu können, und hab mir dann den Katalog schicken lassen. Den Katalog bekam ich an dem Tag als ich auch zum Zahnarzt mußte. Der Zahnarzt hat da eine Wurzelbehandlung gemacht, und abends fing der Zahn an zu pochen. Ich konnte kein Auge schlafen. Aber ich hab in dieser Nacht den ganzen Katalog durchgelesen. Und da fiel mir ein Name auf, der hieß Victor Hartwiger. Das war ein Prager Dichter, eigentlich ein Neuromantiker, aber ein großer Beeinflusser der expressionistischen Literatur. Victor Hartwiger. Und da stand also Victor Hartwiger, geboren 18hundertsoundso in Prag, gestorben 1911 in Berlin. Mehr nicht zu ermitteln. Da dachte ich mir als Student, das darf nicht sein, daß da nur zwei Zeilen zu einem Dichter stehen! Und da hab ich mich um den gekümmert, zusammen mit dem Paul Rabe, ja, der war hier in der Frankeschen Stiftung. Mit dem hab ich dann zusammen gearbeitet und der hat sehr viele Dinge für mich rausgefunden, und auch daß dieser Anselm Rüst der Nachlaßverwalter war von diesem Victor Hartwiger. So kam ich auf den Namen Anselm Rüst. Rüst ist bereits gestorben 1942, in Frankreich im Exil. Aber seine Witwe sollte noch leben hieß es. Und ich hatte dann auch die Adresse, hab dort einen Brief hingeschrieben, kam keine Antwort, dann hab ich nochmal eine Kopie von dem Brief geschrieben nach zwei Monaten, wieder keine Antwort. Und da haben sich meine Frau und ich in unseren VW Käfer gesetzt und sind an die Adresse gefahren in Frankreich, bei Toulon. Und wir gingen zu diesem Haus, das haben wir gefunden in einem kleinen Dorf namens Six-Fours, und da haben wir an die Tür geklopft und es machte niemand auf. Und dann hat eine Frau gegenüber das gehört und machte ihren Fensterladen auf und sagte: „wen sucht ihr denn?“ Ich sagte, wir suchen hier die Frau soundso. „Ja, die ist vor drei Wochen gestorben.“ Und dann hatte ich glücklicherweise die Idee die Frau zu fragen: hat die Frau irgendwelche Nachkommen? Gibt es Kinder? „Ja, ich glaube ich habe gehört daß sie ´ne Tochter hätte“, und die soll in einem Krankenhaus in Avignon arbeiten als Putzfrau. Das war die einzige Information. Putzfrau, Avignon, Krankenhaus. Da fuhren wir sofort nach Avignon in ein Telefonhäuschen, und haben da die Adressen der Krankenhäuser rausgeschrieben. Und wir gingen ins größte Krankenhaus zuerst, und gingen zu dieser Rezeption und fragten dort: Gibt’s hier eine Putzfrau mit deutschem Ursprung? Und die Schwester dort, die hat sich ein bißchen überlegt, und hat gesagt: „peut-être madame Lebér?“ Und dann hat sie die angerufen, und die kam, und auf einem Korridor sind wir uns begegnet im Krankenhaus, und ich hab sie gefragt: Entschuldigung ich habe ´ne seltsame Frage, sind sie die Tochter von Anselm Rüst? Da ging das Gesicht so auf …. „Woher wissen sie das?“ Und dann erzählte sie mir, ja, das Haus in Six-Four, wo sich niemand gemeldet hat, das müßte sie dringend verkaufen nach dem Tod ihrer Mutter. Sie hätte schon alles da verkauft was drin war, das Haus sei leer, bis auf die Schriften ihres Vaters. Die seien dort noch in Kartons und Kisten in einer Ecke, und die müsse sie jetzt nächste Woche auch der Müllabfuhr geben. Sie müsse das Haus leer verkaufen. Und da habe ich ihr den großmutigen Vorschlag gemacht, ich könne ihr die Funktion der Müllabfuhr schon erfüllen. Und sie war glücklich, daß da im letzten Moment irgendjemand kam, der da Interesse hatte.
T.B. Aber das ist ja dann wirklich -: höhere Mächte befahlen, genau in dem Moment dort hin zu fahren.
H.G. Verrückt, ja? Und ich hab sie nur gefragt: ich suche irgendwelche Unterlagen zu Victor Hartwiger. Ja, ihr Vater war Nachlaßverwalter von Victor Hartwiger. „Ja, das weiß ich gar nicht, keine Ahnung.“ Ja, sie hatte überhaupt keine Ahnung vom Leben ihres Vaters. „Aber gucken sie halt. Nehmen sie am besten alles mit. Gucken sie ob was ist, dann können sie das andere ja wegwerfen.“ Ok, wir haben unseren VW Käfer vollgeladen, aber wie! Die ganze Rückbank war voll, hinten konnte man nicht mehr rausgucken durchs Rückfenster, auf dem Dach hatten wir oben ´ne große Seekiste, voll mit Zeug, der Kofferraum war rappelvoll.
W.K. Ja wann war denn das?
H.G. Das war 1966. Und dann fuhren wir nach Hause. An der deutschen Grenze sagte der „was haben sie da oben drin in der Kiste?“. Ich sagte, das ist alles voller Zigaretten und Whisky, bitteschön. Der hat gelacht. Ja, und dann fuhr ich nach Tübingen, wo ich wohnte, an den Marktplatz, an den Marktbrunnen, hab den Kofferraum geöffnet, und hab irgendein Papier blind rausgeholt, und hab das vorgelesen. Die Leute sind vorbeigegangen, mancher blieb stehen, ja und das war dann wieder die Ankunft von diesem Anselm Rüst in Deutschland.
Und diese Frau Leber, diese Tochter, die hat dann gesagt, „ja, sein Cousin der Salomo Friedlaender…“, ja, Salomo Friedlaender mit dem Pseudonym Mynona, „die Witwe lebt noch, und der Sohn leben noch in Paris.“ Und Mynona, ich weiß nicht, kennt ihr Salomo Friedlaender … der Erfinder der literarischen Groteske?
W.K. Wir haben ja vorhin drüber gesprochen.
H.G. Und dann sind wir kurz danach, ich glaube ein halbes Jahr danach, nach Paris gefahren, und wir haben dort die Witwe von diesem Schriftsteller und Philosophen noch gefunden und den Sohn. Mit dem Sohn hatten wir dann eine enge Freundschaft. Der war auch bei uns. Und der hat mich zum Nachlaßverwalter bestimmt. Genau wie die Tochter von dem Rüst. Und testamentarisch hat er mir dann auch noch die gesamten Rechte vermacht. Er hatte keine Nachkommen.
W.K. Wie lange hatte Friedlaender gelebt?
H.G. Der ist 1871 geboren und ist 1946 in Paris gestorben. Der hat das Kriegsende noch bewußt erlebt. Ja, und wir geben jetzt zu dritt, ein Philosoph, meine Frau und ich, wir geben jetzt zusammen die gesammelten Werke von Friedlaender heraus, in einer Werkausgabe von 41 Bänden. 20 sind erschienen bisher. Bis 700 Seiten kann ich gehen. 700 Seiten sind das Maximum, und es sind einige Bände mit 700 Seiten, aber durchschnittlich so 400 bis 500 Seiten.
T.B. Ist nicht „Der Einzige“ auch irgendwann wieder erschienen?
H.G. Ja, den hab ich herausgegeben, im Faksimile. Kraus-Reprint hieß das damals. Kraus, das war eine riesige Reprint-Firma in Deutschland.
Der Reprint kostete so um die 200 Mark damals. So´n dickes Buch, mit sämtlichen Nummern. Es gab in ganz Deutschland nur Einzelnummern in Bibliotheken, nur Einzelhefte. Und durch den Fund in Six-Four damals konnte ich einen gesamten …, wie sagt man? Ich konnte das kollationieren. Und hatte jede Nummer die damals erschienen war, mit den Nummern, die in verschiedenen Bibliotheken in Deutschland …
T.B. Die letzte Nummer war ja gar nicht mehr erschienen, glaub ich?
H.G. Die letzten wurden im Lichtdruckverfahren veröffentlicht, ja, handschriftlich zum Teil. Ja, das war da die Gesamtausgabe. Ich glaube, das kann man immer noch kaufen, in Amerika. Und das kostet glaub ich 500 Dollar.
...
H.G. Was ist das eigentlich dahinten in den zwei Flaschen, Ginsengschnaps?
M.K. Das dürfte japanischer Pflaumenwein sein, weil Wieland japanisch kocht.
H.G. Ja, essen und kochen, ja. Kocht ihr gern? Eine meiner Hauptbeschäftigungen. Ich mache eigentlich gar keinen Unterschied zwischen Kochen und Musik machen. Wirklich. Das ist ganz ähnlich. Ich koche aber am liebsten als Solist. Das geht nicht wenn meine Frau da in der Küche ist, also ich muß allein sein. Kein Duo.
Und wir kochen eben auch sehr viel orientalisch auch. Weil wir da so lange gelebt haben. Ägyptische Sachen, afganischen Reis oder so, indisches Essen …
S.B. Hast Du auch in Indien gelebt?
H.G. Gereist. Von Afghanistan aus sind wir durch ganz Indien durchgereist mit dem Zug.
S.B. Als man noch in Afghanistan unproblematisch leben und reisen konnte.
H.G. Das war ein Paradies. Das Königreich Afghanistan war das noch, als ich dort war.
S.B. Das ist noch vor dem Krieg mit Rußland gewesen.
H.G. Jaja. Natürlich. Lang vorher.
S.B. Zwischen Halle und Leipzig gibt’s, und es gab damals schon einen Flughafen in den 10er Jahren, bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges ...
H.G. Da hat die Lufthansa die erste Linie erprobt über Kabul nach Peking. Das war die Peking-Linie.
S.B. Genau! Und es gab eine Linie Leipzig – Kabul. Die wurde mit initiiert durch Hasso von Veldheim-Ostrau.
H.G. In Kabul gab es ein großes Banner über dem Flughafen wo drauf stand: PROLETARIER ALLER LÄNDER VEREINIGT EUCH. Auf Persisch, ja , auf Darī. Aber es gab in ganz Afghanistan nicht einen einzigen Proletarier. Das gab´s gar nicht. Ja, da ist ja gar keine Industrie.
M.K. Das sind sozusagen Gedanken über Probleme anderer Leute …
H.G. Und als wir in Kabul ankamen haben wir ein Haus gemietet. Das war ein Neubau. Und da haben wir einen Garten angepflanzt dort. Und es wuchs nichts. Es wuchs überhaupt nix. Es ging alles kaputt, was wir dort pflanzten. Und dann haben wir den Boden untersuchen lassen, dann war der Boden getränkt von Öl. Zufällig hatte ein Freund von uns eine alte Karte von dem Grund. Das Haus stand direkt auf dem Flughafen damals, und da haben die ihren Ölwechsel gemacht, die Lufthansa. Und dann haben wir einen halben Meter von der Erde wegtragen lassen und neu angebaut, und da ist alles gewachsen. Das zum Flughafen in Kabul.
Leipzig – Kabul, ja? Aber heute nicht mehr!
S.B. Heute nicht mehr. Und doch, in gewisser Weise wieder. Ein großer Teil der militärischen Transporte der Bundeswehr und der Nato wurden zur Zeit des Afganistankrieges absurderweise hier über Leipzig_Halle abgewickelt.
H.G. Wir hatten so ein tolles Verhältnis, Afghanistan und Deutschland. Das war eine uralte Freundschaft. Die Amani-Oberrealschule in Kabul war eine deutsche Gründung von Kaiser Wilhelm, wahrscheinlich das allererste Entwicklungshilfeprojekt überhaupt. Und die besteht heute noch. Bei meiner Arbeit in Kabul mußte ich oft mit Leuten in den Ministerien verhandeln, ich brauchte da nie einen Dolmetscher, die sprachen alle fließend Deutsch. Die ganze Oberschicht in Afghanistan sprach deutsch. Muß man sich mal vorstellen, uralte Freundschaften.
T.B. Das ist eine Tragödie ohne gleichen.
H.G. Und dann schicken die plötzlich deutsche Menschen da hin, in Uniformen und mit Waffen! Und wir sind plötzlich Besatzer.
S.B. Und verteidigen dort unsere Demokratie.
H.G. Und verteidigen dort unsere Freiheit.
M.K. Das Wirtschaftssystem wird zum Selbstläufer. Das ist ja hier der Punkt. Und da wird halt alles getan, damit das weiter selbstläuft.
H.G. Im Völkerkundemuseum in München ist eine Ausstellung gelaufen vor zwei Jahren über Afghanistan. Und das war eigentlich eine Ausstellung der Bundeswehr, ist doch unglaublich hey. Im Völkerkundemuseum macht die Leiterin dieses Museums eine Ausstellung mit Fotos und Objekten aus Afghanistan. Und in einer Ecke des Ausstellungsraums war eine Gedenk-Ecke mit den Namen der in Afghanistan gefallenen deutschen Soldaten. Aber es gab keine Ecke für die Afghanen. Und da war kurz zuvor diese Tanklastwagensache mit ich weiß nicht wieviel hundert Toten, wo dieser deutsche Oberst da den Befehl gegeben hatte daß die Amerikaner diesen Tanklastwagen abschießen. Keine Rede davon. Und dann Großfotos, von der Bundeswehr, wo die Offiziere einen beturbanten Afghanen im Arm haben. Eine einzige Katastrophe! Dann – ich ging dann aus der Ausstellung raus, die Direktorin des Völkerkundemuseums hat die Leute verabschiedet: „So Herr Geerken, hat ihnen die Ausstellung gefallen?“ Da sag ich: Nein! Da hat sie sich sofort umgedreht und war wieder weg.
S.B. Sie wollte nicht wissen warum.
H.G. Da hab ich ihr einen langen Brief geschrieben um mein Nein zu untermauern. Da kam aber keine Antwort drauf. Den hab ich im Netz veröffentlicht. Man muß doch irgendwas machen! …
Ich bin ja die meiste Zeit meines Lebens im Orient gewesen. Ich habe nie irgendwas bemerkt, daß da ein Haß war, eben nicht. Nie! Ich wurde im Orient, im islamischen Orient immer nur mit der größten Herzlichkeit und Freundlichkeit aufgenommen, die man bei uns überhaupt gar nicht finden kann, im Westen, diese Art von Freundlichkeit und Gastfreundschaft.
...
S.B. Es gibt auf der Wahrnehmungsebene auch den Begriff der Syneidesie, also wo Ideen sich verknüpfen, also von Eidos, … die Verknüpfung von Ideen, und auch das Entstehen von Resonanzen zwischen der einen Idee und der anderen, sozusagen eine Verknüpfung von Begriffen die in Schwingung geraten wenn sie in Nachbarschaft zueinander kommen …
H.G. Wie in der Musik!
S.B. Ein musikalisches Verständnis eigentlich von Kommunikativen Prozessen, das weniger logisch hierarchisch ist, sondern eher eins was Verknüpfungen bildet, oder Wachstumsmomente bildet, neue Formen herausbildet, auch wuchern darf, Wildwachstum provoziert und so weiter.
M.K. Also nichtausgrenzende Prinzipien.
S.B. Genau. Das finde ich eigentlich ein interessantes Bild für geistige Prozesse.
H.G. Das ist ähnlich wie die dissipativen Strukturen. Da gab’s einen Biologen der hieß Ilya Prigogine, der das entwickelt hat in den 60er Jahren. Da ist das eine biologische Sache, die ich aber eins zu eins auf meine Literatur zum Beispiel übertragen kann. Das sind chaotische Systeme die zerfallen, und die in Selbstorganisation wieder neue Ordnungen schaffen. Die Zerfallsprodukte von einer Ordnung entwickeln sich durch Selbstorganisation wieder zu einer neuen Sache. Das ist ein musikalisches Prinzip. Die Selbstorganisation ist ganz wichtig. So wie beim Blasinstrument dem ich die Luft zur Verfügung stelle. Das ist so ein Beispiel für Selbstorganisation. Wo sich ein System selbst bildet.
M.K. Aber das setzt ja auch voraus, daß man es zuläßt.
H.G. Natürlich, klar, das ist die Grundvoraussetzung. Als ich in Kabul war kamen immer wieder Anfragen von Musikern: „Kann ich bei Euch in Kabul Konzerte geben?“ Geiger vor allem. Und ich hab immer gesagt: ja. Ich guckte natürlich, was das für Leute sind, ob die ok sind und so, ob die auch fachlich ok sind. Und da hab ich ihnen zurück geschrieben: ja, sie können kommen, unter einer Voraussetzung, daß sie im zweiten Teil ihres Konzerts mit afghanischen Musikern zusammen improvisieren. Und da haben etwa 95% abgesagt.
…
Ihr glaubt nicht wie unangenehm ich aufgefallen bin bei den Kammerspielen in München. Da habe ich als Schauspieler ein paar Jahre gearbeitet, ja, und …
M.K. Da muß man ja Texte auswendig lernen.
H.G. Da muß man Texte auswendig lernen, solche Kladden, ja, Monologe, und improvisieren ist nicht angesagt. Ich fing da oft an zu improvisieren, und Dinge zu machen, die völlig unmöglich sind am Theater. Ich hab einen Polizisten mal gespielt in einem Stück von Herbert Achternbusch, und da mußte ich Schnaps trinken aus einer Flasche. Und während der Proben, ich machte das, und – um Gottes willen, das war reines Wasser! Wie kommt ihr dazu mir reines Wasser zu servieren? Das muß doch Schnaps sein! Ich kann nur spielen wenn da echter Schnaps drin ist. Das ist aber verboten im Theater. Dann ging das bis zum Intendanten, und dann kriegte ich Schnaps. Es war aber noch ein anderer da, ein anderer Schauspieler, der mußte auch den Schnaps trinken. Da gab es dann zwei Flaschen, die dann ganz schnell ausgetauscht wurden. Jaja, eine mit Wasser, eine mit Schnaps.
Und solche Dinge also. In einem Theaterstück spielte ich mit dem Klaus Schwarzkopf, ein berühmter Schauspieler, und der spielte eine Figur die hieß Schwarzel in dem Theaterstück, und ich mußte mit dem Kontakt aufnehmen da auf der Bühne, und ich sagte bei einer Vorstellung nicht: Ah, Herr Schwarzel. Ich sagte: Ah, Herr Schwarzkopf. Der ist völlig aus dem Konzept geraten und hat sich bei der Intendantin beklagt, und da wurde ich zur Intendanz gerufen. Und die hat mir gesagt ich solle das doch bitte nicht mehr machen, das würde den Ablauf stören. Oder das Schönste war, auch in einem Stück von Achternbusch, das mit dem Polizisten, da mußte ich eine Frau überführen, die hatte irgendwelche Brötchen, so Semmeln versteckt, in ihrem Ausschnitt. In ihrem Dirndl. Und ich mußte es finden. Und ich mußte ihr also da in den Ausschnitt greifen und: Ah! Schon wieder eine Semmel geschmuggelt! Oder so ähnlich. Und damals war eine große Sensation, da hat die Münchner Polizei Gummigeschosse eingeführt, gegen Demonstranten Gummigeschosse. Das gab große Diskussionen in der Presse und so. Und ich greif der in den Ausschnitt: Ah! Schon wieder diese Gummigeschosse! Das Publikum hat getöbert vor Lachen. Ja so Sachen. Aber da fällt man unangenehm auf wenn man sowas macht. Und ich kann´s halt nicht lassen.
W.K. Also es gibt zwei Dinge bei den Projekten die Du auch bei Werkleitz vorgestellt hast, die mir tief in Erinnerung geblieben sind. Das hat auch mit eigenen Erinnerungen zu tun, mit Situationen wo man sagt, das sind Grenzerfahrungen. Also dieses physische Erleben, das war das Bunkerprojekt. Und das zweite, da würde ich auch nochmal gerne was dazu hören, das war das Projekt im Bayrischen Rundfunk, wo es eine Liveschaltung über 15 sec über Telefon gab, wo Leute reingespielt haben, …
H.G. Hexenring, mit Moye war das.
W.K. … und das ist ja nicht geschnitten, das ist live gesendet, das ist natürlich hoch interessant, damit ergibt sich ´ne Arbeitsweise, die natürlich auch mit improvisieren zu tun hat. Da muß ich sagen, als ich das gehört habe, das hat immer noch auf mich so eine Unmittelbarkeit, wo ich daran natürlich jetzt Radio-Revolten messe bald 40 Jahre später. Mit welchen Möglichkeiten heute gearbeitet wird, die Wurzeln davon sind viel länger, ihr wart an einem ganz anderen Punkt an so ´ner Sache dran als heute, wo man aufbaut auf das was ihr gemacht habt.
H.G. Also ich dachte das auch bei der Aufführung von den zweien aus Sao Paulo. Ja, ich bin dann auch gegangen, weil das sind so Sachen die machte Stockhausen vor 70 Jahren.
W.K. Eben, das meine ich! Man muß wahrscheinlich die Wurzeln nach hinten wegschneiden und so tun als ob´s die nicht gäbe.
H.G. Also das ist ein allgemeines Problem auch im Jazz. Also es gibt Leute die spielen den reinsten Bebop und haben den Namen Charly Parker noch nie gehört. Das gibt’s heute!
M.K. Also ich denke, es gibt ja auch so ´ne Erfindungen, die irgendwann einen Grad an Perfektion erreicht haben, daß das Thema damit fast erledigt ist, also …
H.G. Ja aber es wird auch immer wieder neu entdeckt. Es entwickelt sich spiralförmig, ja, man kommt immer wieder an denselben Punkt.
...
Im Bunker, da hab ich eigentlich … Das hat ´ne kleine Vorgeschichte. Bei dieser Afrika-Tournee die wir gemacht haben, haben wir mal auf einem Urwaldfluß eine Strecke zurückgelegt, auf einem offenen Boot, vielleicht 20 Meter lang, schmal, viele Leute drin, wie so´n Taxi, es legte immer wieder an, und die Leute stiegen aus und ein. Und da kam eine Afrikanerin mit so´m großen Korb auf dem Kopf mit Mangos. Und die hat mir eine Mango gegeben als sie mich sah, eine Weißhaut. Die Mango war aber ziemlich schmutzig. Und ich hab mich über den Bootsrand gebeugt und hab die gewaschen, und da fiel mir da oben aus der Tasche mein Diktiergerät raus, wo ich jeden Tag draufgesprochen habe, samt der bereits bespielten Kassetten. War alles weg. Und dann kamen wir nach Hause zurück, und da hatte ich die Idee, ich muß so schnell wie möglich irgendwie völlig vereinsamt irgendwohin, wo ich alles wieder rekapitulieren kann, aus meinem Kopf, oder annähernd. Und dann hab ich den Vertrag gemacht mit dem Max Planck Institut, und war dann vier Wochen in dem Bunker. Und da hab ich das noch geschrieben über diese Tournee. Das war eigentlich der Anlaß. Und im Bunker, als ich da vier Wochen drin war, ist mir in gewisser Weise erst klargeworden, warum es mich in den Bunker gezogen hatte. Das war nämlich noch viel wichtiger. Weil als Kind war der Bunker für mich der Ort der Sicherheit, ja, ich war tagelang im Bunker in Stuttgart, als das bombardiert wurde. Und das war für mich ein Ort der Sicherheit. Also viele Leute sagen ja: was, vier Wochen im Bunker, baoh, da würde mir die Decke auf den Kopf fallen. Bei mir war´s genau das Gegenteil. Ich fühlte mich da sehr wohl, frei.
T.B. Das ist natürlich auch ein Vermögen oder Talent mit sich selbst über so eine lange Zeit allein zu sein.
H.G. Man muß was mit sich anfangen können, klar. Ich hab zum Beispiel alte Musikinstrumente mitgenommen die kaputt waren. Und die hab ich dort repariert, mit einer Eselsgeduld. Ja da konnte man stundenlang an einem Knopfloch arbeiten. Ich hatte ja keine Zeitvorstellungen im Bunker. Ich war ohne Uhr und ohne irgendwas. Es war immer hell.
M.K. Ach so. Der Rhythmus hat sich dann von alleine eingestellt?
H.G. Der hat sich von alleine eingestellt. Nach zwei Wochen hatte ich meinen biologischen Rhythmus praktisch, nicht den der Außenwelt, wo wir auf einen vierundzwanzig-Stunden-Zyklus programmiert sind, sondern ich hatte einen dreißig-Stunden-Zyklus. Und davon waren drei Stunden Schlaf und 27 Stunden habe ich gearbeitet. Und dann wieder drei Stunden geschlafen … Und das ist bei jedem anders. Jeder hat einen anderen biologischen Zyklus.
W.K. Wieweit gab´s denn da Berührungen mit anderen Menschen? Wie bist du versorgt worden?
H.G. Ich mußte selbst kochen.
W.K. Das heißt, du hast alles dort gehabt, und hast in der Zeit keine menschliche Begegnung gehabt.
H.G. Absolut nicht, nein. Es gab eine Schleuse zwischen dem Raum wo ich war, und der Außenwelt. Und da konnte ich Zettel rein legen: ich brauch morgen fünf Bismarckheringe, zwei Kilo Miso … Ich hatte ein chinesisches Kochbuch dabei. Und hab da chinesisch -, mich ein bißchen eingearbeitet in die chinesische Küche. So Projekte muß man da halt haben. Und dann nach einiger Zeit lag das dann da in der Schleuse drin, was ich da bestellt habe, Wein oder Bier.
T.B. Und was war die Fragestellung von Seiten des Max Planck Instituts?
H.G. Keine Ahnung. Ich mußte meinen ganzen Urin immer abliefern.
W.K. Es gab schon praktisch ein Monitoring, sowas?
H.G. Es gab auf dem Fußboden Kontaktpunkte, sodaß die feststellen konnten ob ich sitze, oder auf dem Bett liege, oder ob ich tanze – ich habe in meinem Leben nicht so viel getanzt wie da in dem Bunker, stundenlang die wildesten Tänze aufgeführt. Man muß sich ja bewegen. Und ich hatte Musik. Ich konnte meine Platten mitnehmen. Und da haben die natürlich nicht dran gedacht, daß die Platten Zeitangaben haben, die Stücke, ja. Und so habe ich meine weichen Eier gekocht zum Frühstück. Da hatte ich eine schöne Platte von Lennie Tristano, da war eines, ich glaube Manhattan transfer hieß das, das hatte vier Minuten und dreißig Sekunden sowas. Am Beginn-Akkord das Ei ins kochende Wasser und beim End-Akkord raus, wunderbar weich. So erfindet man da Sachen. Oder es war permanent hell dort. Ich konnte also das Licht nicht ausschalten. Das war ein Parameter des Versuchs. Und ich konnte da einfach nicht schlafen in der Helle. Und da habe ich mir ´ne Augenbinde kommen lassen. Die ist dann verrutscht, dann war´s wieder hell. Und dann hab ich mir mit Reißzwecken ´ne Decke an die befestigt, am Schrank und unten auf dem Fußboden. Und da hatte ich so ein dunkles Dreieck wo ich reinschlüpfen konnte. Und da habe ich auf dem Boden geschlafen. Im dunklen Zelt praktisch. Und da wollten die den Versuch abbrechen, weil die haben gemerkt: der liegt da auf dem Boden. Was ist da los? Aber die Herztätigkeit war in Ordnung, der Blutdruck war in Ordnung, ich war putzgesund. Aber der liegt auf dem Boden, und da wollten sie das abbrechen.
W.K. Sag mal, diese, vom Max Planck Institut, diese Untersuchung an dir, hat sich das erst zu deinem Projekt erstellt? Oder hast Du -, warst Du der Impulsgeber für den Versuch? War das ihre Forderung sozusagen, wenn du da rein kannst dann möchten sie von dir diese Daten haben …
H.G. Ja. Ich hatte so einen Stapel mit Blanko Fragebögen, da mußte ich jeden Tag einen Fragebogen ausfüllen, wie´s mir geht und was man macht, man mußte bestimmte Tests machen mit Buchstaben und so weiter. Und da ist mir dann zu blöd, das jeden Tag auszufüllen. Und da hab ich mich mal ´ne Stunde hingesetzt und hab alle ausgefüllt. Und ich hab dann jeden Tag einfach einen weggenommen … Das war wirklich eine Schadenfreude, da die Wissenschaft irgendwie hinters Licht zu führen.
T.B. Vielleicht scheitert die Wissenschaft ja immer wieder genau an solchen Stellen …
H.G. Und ich hatte also die Möglichkeit die Raumtemperatur einzustellen wie ich wollte. Weil ich gerade aus Afrika kam war die eben auf 35 Grad. Und da dachte ich mir, wieso muß ich da eigentlich Kleidung tragen, allein im Bunker? Ich war dann vier Wochen lang nackt. Das ist auch ´ne Erfahrung, die hat kaum ein Mitteleuropäer, vier Wochen nackt.
T.B. Außer die Prerow-Urlauber im Osten.
H.G. Und ich hatte so´ne Rektalsonde im Arsch, die den Herzschlag und den Blutdruck und so weiter mißt. Mit Kabel. Ich hab es immer Fifi genannt. Ein Kabel, das dann oben in so ´ne Steckdose ging.
T.B. Wie groß war der Raum?
H.G. So wie der hier. Eine abgetrennte Küche und ein Bad.
W.K. Gab´s ein Mikrophon?
H.G. Nein.
W.K. Also das heißt es gab auch keine Kamera. Alles ging nur mit dem Zettel, hallo, ich bin noch da und ich brauche das und das…
H.G. Der Kontakt war die Rektalsonde und die Druckpunkte auf dem Boden. Und der Versuchsleiter hat mich am Anfang da hin gebracht in das Zimmer. Wir haben noch ein kurzes Gespräch gehabt, wo er mir alles erklärt hat. Und dann hat er gesagt: „o.k. ist gut. Ich geh jetzt. Ich schließe nicht außen ab. Sie können jederzeit den Versuch abbrechen, indem sie rausgehen. Aber dann ist der Versuch beendet. Und ich komm dann in vier Wochen wieder, und hol sie ab. Ich melde mich aber eine Stunde vorher an mit einem Brummton.“ Bezahlt haben sie dreißig Mark am Tag. Und Kost und Logis frei. Also mein Urin wurde nach London geschickt, das habe ich erfahren. Sonst aber, ja, danach, daß dieser dreißig Stundenzyklus … Aber das hat mich auch nicht interessiert. Ich wollte mein Projekt fertig machen.
S.B. Du wußtest von dem Bunker, daß der existiert?
H.G. Jaja, der ist in unserer Nachbarschaft. Das sind zwei Bunker, die wurden glaube ich speziell für diese Versuche gebaut. Die Räume sind 25 Meter unter der Erde, also daß auch jegliche kosmische Strahlung abgeschirmt wird.
W.K. Wie ist das akustisch, wie hast Du das wahrgenommen? Ist das gedämpft?
H.G. Also ich hab jeden Tag Aufnahmen gemacht, über vierzig Kassetten voll. Und daraus ist dann das Bunker-Hörspiel entstanden.
Ich arbeite nicht mehr mit dem Bayrischen Rundfunk. Die haben mich sehr getäuscht. Der Chef dort, der Hörspielchef, der hat meine Sachen einfach gekürzt, zensiert, bei einem Hörspiel einfach sieben Minuten abgeschnitten am Schluß. Also ich hab zehn Jahre für den gearbeitet und hatte dort wirkliche Narrenfreiheit. Diese Zeiten sind vorbei. Ich bin jetzt beim Deutschlandfunk. Mache dort meine Hörspiele seit ein paar Jahren. Und das ist ein Riesen Unterschied zum Bayrischen Rundfunk.
Ich hab mal einen Rundbrief geschickt an alle Rundfunkanstalten in Deutschland, mit einem Heft, wo alle meine Hörspiele beschrieben sind, ob sie nicht davon was übernehmen könnten. Da kriege ich vom Mitteldeutschen Rundfunk eine Antwort, vom Hörspielchef: „… wir haben ihren Brief bekommen und leider müssen wir ihnen sagen daß ihre Hörspiele für uns völlig ungeeignet sind. Wir brauchen für unsere Hörspiele handfeste Charaktere und große Spannungsbögen.“ Das hat mich so beeindruckt, das kann ich auswendig. Das fand ich gut.
….
Also ich hab mal ein Hörspiel gemacht mit dem Titel „Südwärts Südwärts“, und zwar über diesen Anselm Rüst, über den wir gesprochen haben. Da hab ich in seinem Nachlaß, in diesem Berg von Papieren, ein Notizbuch gefunden, das er schon angefangen hatte in einem Viehwaggon zu schreiben, bei einem Internierten-Transport in Frankreich. Und das ist ein Text von ich glaube dreißig, vierzig Seiten, mit allen Details wie´s da zugeht, was da los ist, wie sie ihre Notdurft verrichten mußten durch die Ritzen von dem Viehwagen … Und da habe ich ein Hörspiel gemacht. Und meine Bedingung war, daß ein Sprecher diesen Text Primavista liest, also ohne daß er üben darf, eine Handschrift die schwer lesbar ist, und er kriegt von mir das Original, als keine Fotokopien, sondern Das Original-Heft, und muß das lesen. Und das mußten die Sprechen natürlich vorher wissen, und der Funk hat da Sprecher gesucht. Und die haben alle abgesagt. Alle bis auf einen, der Peter Fricke, ein Schauspieler. Und der hat gesagt, das ist interessant. Das könnte ich mal versuchen. Und dann haben wir den also ins Studio gesperrt, haben ihm die Handschrift gegeben, und dann hieß es: Band läuft. Und der fing an da zu lesen und versuchte das zu entziffern, und: „äh, hmm, ahh äh … Nein Moment, das heißt so … ja da da …“ Der hat sich so stotternd fortbewegt in diesem Text, den man natürlich nicht fließend lesen darf. Das ist völlig daneben sowas poliert zu lesen, bei der Situation, bei der geschrieben wurde. Und das war eine ganz phantastische Aufnahme! Der saß da drin, mindestens zwei oder drei Stunden, und hat geschwitzt wie ein Schwein. Und das war dann manchmal fast etwas wie so ein editionstechnisches Gemurmel. „Wie heißt jetzt das? … -nein das ist ein A …“ Und ich hab ihm gesagt, sprich einfach alles was dir durch den Kopf kommt, mit dem Text zusammen, entziffer den, laut. Und das war phantastisch. Es war eine eigene Handschrift. Der Anfang ist in dem Zug geschrieben. Und dann nachher im Lager, im Interniertenlager in Gurs, in den Pyrenäen, ein ganz berüchtigtes Internierungslager. Alle Deutschen waren ja Kriegsverbrecher, Nazis, nach 39, nachdem der Krieg erklärt wurde zwischen Frankreich und Deutschland. Die Hitlergegner waren plötzlich Frankreichgegner.