Einer, der mit Seele sah

Serendipity. Das war dein Lieblingswort. Unverhoffter Glücksfund. "Und zwar einer, aus dem man was macht!", fügtest du immer fröhlich verschmitzt hinzu. So warst du, ein Macher. Mit Schalk und Ernst im Lächeln. Dich zu treffen, war ein solcher Glücksfund.

Mitte der 1990er war das, bei einer Ausstellungseröffnung. Getroffen, geschwatzt, und das Funkeln im andern erkannt. Dann hab ich dich für ein paar Jahre aus den Augen verloren, war nach Spanien gezogen. Nach meiner Rückkehr traf ich dich wieder. 2004, beim Dachbodenfest einer Freundin. Ich erzählte dir von meinem steten Bedürfnis, Bilder mit Text zu verbinden. Dir fiel sofort eine "Spielwiese" dafür ein: Die Rubrik "Ein Bild" des Rundbriefs Fotografie. Ein Anruf. "Kritik der Starre" wurde mein erster Essay zur Fotokunst; es war der Beginn unserer langjährigen Zusammenarbeit.

Deine Art, die Dinge wahrzunehmen, war vertraut und überzeugend. Zuerst kommt das empathische Sehen, das unverstellte Wahrnehmen, dann erst das Einlassen auf Bildästhetik, Formensprache und fotohistorische Bezüge. Im einen wach, im andern kompromisslos. Mit Gespür fürs Gegenüber und mit Leidenschaft für die Sache. Von dir lernte ich. Gemeinsame Publikationen entstanden, wie der im Rahmen deiner langjährigen Tätigkeit als Kustos der Sammlung Fotografie am Kunstmuseum Moritzburg entstandene Band "Die Zweite Avantgarde. Das Fotoforum Kassel 1972-1982" oder zuletzt die Werkausgabe zu Semjon Prosjak, dessen fotografischen Nachlass du gemeinsam mit René Schäffer retten und erschließen konntest.

Du hattest ein Auge für das Besondere im Schlichten, das Ergreifende im Alltäglichen, die Verletzlichkeit hinter Rohem, die über die bloße Bildaussage hinausweist. Damit hast du viele erreicht und berührt. Wer deine Texte las und deinen Reden lauschte, verstand: Da war einer, der mit Seele sah.

Auch für die Akademie der Künste Sachsen-Anhalt warst du eine unschätzbare Bereicherung mit deinem Wissen, deiner Begeisterungsfähigkeit und deiner Offenheit für neue Projekte, wie die von Moritz Götze vermittelte Leni-Sinclair-Ausstellung, die du kuratiertest. Internationale Photokunst in Halle an der Saale, dafür hast du gelebt. (Photographie schriebst du im Übrigen energisch "mit ph!". Und deine Reden mit der Hand und in Cafés.)

Wir werden dich vermissen, du großartiger Redner, feinsinniger Kritiker und profunder Kenner der Fotografiegeschichte.

Ja, T.O., wir haben die Chance des Glücksfunds gut genutzt.

Maria Meinel, 2. September 2024

 

T.O. Immisch hatte Psychologie und Kunstgeschichte in Berlin und Halle studiert. 1987 bis 2018 war er Gründungskurator der Sammlung Fotografie am Kunstmuseum Moritzburg in Halle (Saale). Er war Ausstellungskurator, Autor und Herausgeber unzähliger Publikationen zur Photographie des Neuen Sehens, der ostdeutschen und osteuropäischen Photographie nach 1945 sowie der zeitgenössischen internationalen Photokunst. 2022 gründete er gemeinsam mit Mario Schneider und Stefanie Wiesel die Helle Kammer – Raum für Fotografie in Halle (Saale).

 

Aus dem Netz:

Nachruf von Manuela Winter und Thomas Bauer-Friedrich, Kunstmuseum Moritzburg
Helle Kammer – Raum für Fotografie, Halle
Nachruf von Katja Pausch in der MZ
Abschied und Würdigung mit Audios von Eva Mahn und Thomas Bauer-Friedrich auf mdr.de