Die Landschaft ermöglicht und prägt als geografischer Bezugsraum das Leben der in ihr lebenden Menschen. Umgekehrt ist sie als Bühne menschlicher Handlungen aber auch Produkt ihrer Einflüsse und Gestaltungen.
Offiziell werden in Deutschland mehr als zwanzig Landschaftstypen unterschieden, von denen die allermeisten als Kulturlandschaften, also genutzte Landschaften gelten (1). Auch das Wort Landschaft selbst hatte ursprünglich weniger mit Natur zu tun als mit ihrer Einhegung und Nutzbarmachung. Erst die jüngere Kunst- und Kulturgeschichte brachte die Kategorie ‚Landschaft‘ als ästhetisch aufgefassten Erfahrungsraum hervor. Der Kulturphilosoph Georg Simmel schrieb 1913, dass Landschaft noch nicht damit gegeben sei, „dass allerhand Dinge nebeneinander auf einem Stück Erdboden ausgebreitet sind und unmittelbar angeschaut werden.“ (2) Das Bewusstsein für Landschaft müsse vielmehr „ein neues Ganzes, Einheitliches haben, über die Elemente hinweg, an ihre Sonderbedeutungen nicht gebunden und aus ihnen nicht mechanisch zusammengesetzt.“ Was wir als Landschaft wahrnehmen und wie wir sie wahrnehmen, ist demnach abhängig von kulturellen Prägungen, von individuellen und kollektiven Erfahrungen. Als menschliche Subjekte erzeugen wir die Landschaft in unseren Köpfen, konstruieren sie aus dem, was wir vorfinden, bereits wissen und gesehen haben. Simmel nennt diesen Wahrnehmungsvorgang einen „eigentümlichen geistigen Prozess“ (3). Neben jeder individuell wahrgenommenen Landschaft müssen also auch unendlich viele weitere ungesehene existieren.
Wenn wir uns in eine Landschaft begeben, können wir ihre Elemente über die Sinne erfahren. Sie riecht, tönt, ist begehbar, enthält Formen und Struktur. Es gibt sogar unmittelbare physiologische und psychische Reaktionen auf ihr Erleben. Beim Spaziergang in einem Waldgebiet senkt sich nachweislich der Blutdruck, die Herzfrequenz und die Konzentration von Stresshormonen.(4) Terpene als aromatische Botenstoffe verändern Gehirnvorgänge, wirken immunstimulierend.(5) Naturgeräusche, wie wir sie etwa in Flusslandschaften zu hören bekommen, lassen das Schmerzempfinden sinken und die kognitive Leistungsfähigkeit ansteigen.(6) Ein weiterer Schlüsselreiz mit vielfältigen Wirkungen ist die Farbe.
Der Farbforscher Axel Buether schreibt, dass es unmöglich ist, Farbe losgelöst von Gefühlen und Assoziationen wahrzunehmen und begründet das mit der Physiologie des Sehapparates. Der „Datenstrom der Farbsignale“(7) führe direkt durch den Thalamus, ein Gehirnareal, das als „Tor zum Bewusstsein“ für Emotionen verantwortlich ist. Noch bevor wir also den Farbton des Meeres, eines Gewerbegebietes oder einer Nebellandschaft bewusst wahrnehmen, haben wir diesen schon gefühlt und erleben die psychischen und körperlichen Reaktionen darauf — bis hin zu Veränderungen der Körpertemperatur.
Die subtileren wechselseitigen Einflüsse zwischen Mensch und Landschaft, mit denen sich Künstler oder Geomanten beschäftigen, gelten als weniger objektiv. Vertraut sind uns aber ihre Symboliken, die wir je nach kultureller Prägung verinnerlicht haben und mit der wir rückwirkend die Landschaft betrachten und deuten. Landschaft wird so zum Spiegel und kann als offen oder verschlossen, karg oder üppig, schroff oder sanft, dramatisch oder lyrisch empfunden werden. Umweltpsychologen und Kulturanthropologen erforschen solche assoziativen Wechselwirkungen und holen diese zurück in den Raum der objektiven Wissenschaft. Die weiträumige norddeutsche Landschaft beispielsweise vermittelt den dort Lebenden laut einer Umfrage ein Gefühl von Freiheit (8). Und ein internationales Forscherteam fand heraus, dass Menschen in Bergregionen im Vergleich zu Personen aus flacheren Regionen emotional stabiler, aber auch introvertierter sind. (9)
Natürliche Landschaften unterliegen einer fortwährenden Wandlung durch Erosion oder die Einflüsse der Biosphäre. Der Mensch hat technologische Kräfte entfaltet, die in ihrer Dynamik alle anderen Einflüsse übersteigen. Selbst klimatische Veränderungen oder Naturkatastrophen lassen sich kaum noch als vom Menschen getrennte Phänomene wahrnehmen. Es gibt nicht wenige Wissenschaftler, die für die Idee eines Erdzeitalters namens „Anthropozän“ plädieren — einer ganzen geologischen Epoche benannt nach dem Lebewesen, das die Gestalt der äußeren Hülle des Planeten prägt. Die Landschaft als einen zu bewahrenden Schatz zu begreifen, ist eine Haltung die unserer derzeitigen Lebensweise widerspricht. Kategorien wie ‚heilig‘ oder ‚unantastbar‘ finden keine Anwendung; alles ist im Widerstreit der Interessen auszuhandeln. Die Belange des Schutzes unterliegen so in vielen Fällen dem wirtschaftlichen Willen, aus einer Landschaft eine auszubeutende Ressource zu machen oder Infrastrukturprojekte in ihr zu realisieren. Autobahnen zerschneiden Flussauen, Bohrer perforieren Grasland, Hotelbauten bepflastern Küstenstreifen, Sojaplantagen verdrängen Regenwald.
Der noch junge Fachbegriff ‚Solastalgie‘ bezeichnet ein Verlustgefühl, das Menschen belastet, wenn sie Veränderungen und Zerstörung ihres heimatlichen Lebensraumes erleben müssen — etwa durch Katastrophen und Krieg, aber auch durch Rodungen, Bergbau oder Industrialisierung. Als sich die Umgebung der Kurstadt Ronneburg im Zuge der bergbaulichen Erschließung nach 1949 rasant zu verändern begann, stand dieses Wort noch nicht zur Verfügung. In der Logik des beginnenden Kalten Krieges war die Möglichkeit der Förderung von Uran gleichbedeutend mit der Frage der Existenz. Nur wer genug Uran förderte und zu waffenfähigem Material aufbereitete, so die Logik der Abschreckung, konnte sicher gehen nicht angegriffen zu werden. Der mineralische Schatz unter Ronneburg, das größte Uranvorkommen Europas, bestimmte das Schicksal der Kulturlandschaft nahe der Stadt. Das Gessental zwischen Gera und Ronneburg ähnelte zuvor den idealtypischen Sonntagslandschaften des 19. Jahrhunderts, die mit Wörtern wie „lieblich“ und „idyllisch“ umschrieben werden konnten. Das Motiv einer Wassermühle fand sich gleich mehrfach in ihr, ebenso mäandernde Bachläufe, Felsvorsprünge und Bauminseln. In dieser Umgebung entstand nun mit dem Tagebau Lichtenberg eine riesige Vertiefung von bis zu 240 Metern, eine Landschaft des terrassenförmigen Aushubs und der künstlichen Ausstülpung. Als „Pyramiden von Ronneburg“ beherrschten vier spitzkeglige schwarzgraue Abraumhalden weithin den Blick. Mehrere landschaftsprägende bäuerliche Ortschaften mussten dem heranrückenden Tagebau weichen, für den bis zu 150 Millionen Kubikmeter Erdmasse bewegt wurden, dem 60-fachen Volumen der Cheopspyramide.
Mythologisch ist der Bergbau mit Erzählungen von schwer zugänglichen Höhlenlandschaften verbunden, in denen Schätze von Elementargeistern bewacht werden. Uranerz wurde bei Ronneburg nicht nur im offenen Tagebau, sondern auch unterirdisch abgebaut. Die von den Wismutkumpeln erlebte Untertagelandschaft stellte sich vermutlich wie eine Antipode zur Urlaubslandschaft von Zinnowitz dar. Statt in einer organischen Umwelt bewegten sie sich in schwarzglänzenden mineralischen Erzschichten, durchzogen von Rohrleitungen und Schienensträngen, statt lichthafter Weite erlebten sie horizontlose Begrenztheit und Dunkelheit der Stollengänge, statt sauberer Atemluft inhalierten sie radioaktiven Staub. Insgesamt nahmen die verzweigten Untertage-Landschaften der WISMUT eine Länge von mehreren tausend Kilometern ein(10). Der aus dem Dunkeln gehobene Schatz, das Uran, hatte wiederum selbst das Potenzial, Landschaften zu verändern — durch die atomaren Explosionen, die es ermöglichte. Die Region um Semipalatinsk in Kasachstan wurde in der Ära der oberirdischen Atomtests übersät mit künstlichen Kratern und ähnelt heute in Teilen der Mondoberfläche. Die Landschaftsverwüstungen des Atomzeitalters durchziehen die gesamte Produktionskette — von der bergbaulichen Förderung und Aufbereitung bis zur Anwendung in Reaktoren oder Bomben und der anschließenden „Entsorgung“.
Ein apokalyptisches Paradox ist, dass die Sperrzone um Tschernobyl heute ein in Europa einmaliges Paradies für Pflanzen und Wildtiere darstellt. „Unzerschnitten“ oder „unverritzt“ — diese Wörter, mit denen in der Landschaftsökologie naturnah gebliebene Räume bezeichnet werden, sind ein Vokabular, das auf ein Bewusstsein von Verletzung hinweist. Die Tagebaulandschaft von Ronneburg war eine offenkundige Verwundung einer über Jahrtausende gewachsenen Kulturlandschaft. In ihrer sprungartigen Metamorphose ähnelte sie einer Katastrophe. Die „Folgelandschaft“ kann diese weder heilen noch ungeschehen machen. Nach erheblichen Anstrengungen und einem langjährigen Renaturierungsprogramm entstand bei Ronneburg eine weitläufige, wie offenes Grasland anmutende Freizeit- und Erinnerungslandschaft. In der Wahrnehmung dieser „Neuen Landschaft“ ist die Episode des Uranbergbaus enthalten. Ein Teil der unterirdischen Stollenlandschaften ist als Schaubergwerk für die Öffentlichkeit erlebbar. Als symbolträchtige Nachfolgeindustrie entstand im Gelände der größte Solarpark Thüringens. Die identitätsstiftenden Kegelhalden, die während der Wismut-Ära zu neuen Wahrzeichen der Region wurden, sind wieder abgetragen und verfüllt worden. Dafür erhebt sich ein neuer künstlicher Berg, der die größte natürliche Erhebung der Gegend um mehrere Meter überragt. Das Gessental zwischen Ronneburg und Gera konnte biologisch und auch landschaftlich in einer beachtlichen Vielfalt wieder erblühen.
Die neue Landschaft Ronneburg ist Ausdruck einer gewachsenen Sensibilität der Gesellschaft für Landschaftsschäden. Sie birgt deshalb eine Hoffnung, dass es der Menschheit gelingt, die natürliche Umwelt mit der Industriekultur zu versöhnen. Der naturzerstörerische Uranbergbau findet jetzt außerhalb Deutschlands statt. Im mitteldeutschen Revier heißt der neue ungehobene Schatz heute
Lithiumsalz und wartet im Osterzgebirge auf seine Erschließung. Die Frage, wem dieser Schatz gehört und wer ihn hebt ist ein Politikum, aber kaum Gegenstand gesellschaftlicher Diskussion. Nach wie vor nimmt das Bergbaurecht mit seinem Zugriff auf Landschaften eine hoheitliche Sonderstellung ein.
Jörg Wunderlich
2021
1 Bundesamt für Naturschutz https://www.bfn.de/themen/biotop-und-landschaftsschutz/ schutzwuerdigelandschaften/landschaftstypen.html
2 Georg Simmel: Philosophie der Landschaft, ersch. in: Die Güldenkammer. Eine bremische Monatsschrift, herausgegeben von Sophie Dorothea Gallwitz, Gustav Friedrich Hartlaub und Hermann Smidt, 3. Jg., 1913, Heft II
3 a. a. O.
4 Quelle: Techniker Krankenkasse https://www.tk.de/techniker/magazin/lifestyle/wald-gut-fuer-gesundheit- 2067166?tkcm=ab
5 https://www.pharmazeutische-zeitung.de/besuch-bei-dr-wald/
6 Rachel T. Buxton: A synthesis of health benefits of natural sounds and their distribution in national parks, https://www.pnas.org/content/118/14/e2013097118
7 Axel Buether, Die geheimnisvolle Macht der Farbe, 2020, S. 67
8 https://www.researchgate.net/publication/242738553_Heimat_Umwelt_und_Risiko_an_der_deutschen_ Nordseekuste
9 https://www.nature.com/articles/s41562-020-0930-x
10 https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/Energie/wismut-broschuere.pdf?__blob=publication File&v=9